Ulrich Siebgeber - ©LG
Ulrich Siebgeber
Vergessen hilft. Aber nicht wirklich.
 

 

Siebgebers Kolumne entstand in den späten Jahren der Merkel-Herrschaft, die geprägt wurden durch ein Klima des politischen Konformismus und der Zuspitzung gesellschaftlicher Differenzen nach dem Motto Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich und muss aus der öffentlichen Debatte entfernt, zumindest unsanft an den Rand gedrängt werden. Gleichzeitig wurden politische Entscheidungen getroffen, deren Brisanz für jeden Einsichtigen offenlag und deren verheerende Auswirkungen das Land gegenwärtig nach und nach zu spüren beginnt.
Siebgebers Aufzeichnungen enden am 8. Mai 2020. Zusammengefasst und nach Themen geordnet lassen sie sich nachlesen in dem Buch Macht ohne Souverän. Die Demontage des Bürgers im Gesinnungsstaat, das 2019 erschien und nebenher das Pseudonym, besser, die literarische Maske des Autors aufdeckte. Im Land der Masken wirkt dergleichen Mummenschanz ohnehin wie aus der Zeit gefallen. Was nicht gegen ihn sprechen sollte.
Ulrich Schödlbauer

von Ulrich Siebgeber

Stephen Bannon, den in Deutschland niemand zitieren darf, ohne sich der üblichen Formeln des Exorzismus zu bedienen, durfte darüber seit längerem plaudern, jetzt zieht es peu à peu auch in die Köpfe deutscher Redakteure ein: der ›Handelskrieg‹ zwischen den USA und China, angeblich von Donald Trump zu Klamaukzwecken vom Zaun gebrochen, um seinen Anhängern ein Spektakel nach ihrem Geschmack zu bieten, ist offenbar bloß ein Gesicht jenes strategisch angelegten Krieges um die Vorherrschaft auf diesem Planeten, der lange im Kommen war (man erinnere sich an die Verlautbarungen des Project for the New American Century und die heftigen Reaktionen, die es hervorrief) und nun wirklich entbrannt zu sein scheint.

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Das ist insofern merkwürdig, weil ein Teil des heftigen inneramerikanischen Widerstandes gegen Trump just dadurch motiviert wurde, dass er den amerikanischen Anspruch auf world leadership niedriger zu hängen schien. So tönte Anfang 2017 ein britisch-amerikanischer Wirtschaftshistoriker in der ZEIT: »The American Century is over. We can tell, not only because the Americans have elected a ludicrous President, but because, for all his nationalist braggadocio, Trump’s ambitions are so modest. He aspires, after all, only to make America great again. Not only does this acknowledge America’s fallen state. It puts Trump’s Presidency on the level with the likes of Erdogan and Putin… The American century in its pomp was lit not by greatness, but by supremacy, the certainty of being called by destiny, divine or secular, to play a role that was not just unique, but above all others. This is the literal meaning of a message that echoed down the century from Woodrow Wilson, to FDR, Kennedy, Reagan, Bush junior and Obama.«

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Amerika ein Staat unter anderen, womöglich auf einer Stufe mit den von ihm bislang ins Glied verwiesenen notorischen Bösewichtern der Weltpolitik? Das durfte nicht sein. Nun zeigt sich: Amerika spannt seine Muskeln, nachdem es von der Illusion der einzigen verbliebenen Supermacht Abschied genommen hat. Trumps Realismus, den die Zurückgebliebenen unter den hiesigen Medienschaffenden noch immer lächerlich zu machen sich anstrengen, verpasst dem von Obama in internationale Plattformen investierten american exceptionalism einen neuen Anzug. Nicht zufällig erinnert er an ältere Moden der Weltgeschichte. Kein in seine Gesetzgeber-Posen verliebtes (und zusehends verlorenes) Amerika, sondern die heißlaufende Rivalität zwischen der aufstrebenden Weltmacht China und dem Platzhirsch USA bestimmt das neue Format. Die Rivalität der Supermächte beherrscht die Welt, indem sie die Spielräume der anderen Staaten verengt und verändert. Wer hier am Drücker ist, dominiert nicht nur den Gegner, sondern auch den Rest der Staatenwelt, gleichgültig, ob es den regionalen Platzhirschen passt oder nicht.

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Augenscheinlich kommt Putins Russland mit dieser Wendung der Dinge besser zurecht als Deutschland, das in einer mit sich zerfallenen EU Deckung gegen den zum fremden Freund mutierten Hegemon zu finden hofft, während der Abgang Großbritanniens das schiere Gegenteil ankündigt: die Marginalisierung Deutschlands und der mühsam zusammengehaltenen Rest-EU im Spannungsfeld von Mächten, die über die Kontrolle der Rohstoffe und Handelsrouten samt Kapitalflüssen dem Globus ein neues Gesicht verpassen. Europas Gegenstrategie, soweit erkennbar, ist buchstäblich in die Luft gebaut. Die Kontrolle des ›Erdklimas‹, sprich der globalen Industrieproduktion durch ›gemeinsame Anstrengungen‹ zur Reduktion ›klimaaktiver‹ Abgase setzt viel guten Willen, sprich: verdeckten Eigennutz auf Seiten aller Beteiligten voraus und es bleibt abzuwarten, ob sie die erstbeste handfeste ökonomische Krise unbeschadet übersteht. Verdrängt wird auch, dass andere Player mit ähnlichem oder größerem Geschick auf diesem Feld zu punkten versuchen könnten – obwohl der Verlauf der Dieselkrise bereits die Folterinstrumente aufgezeigt hat, die hier jederzeit zum Einsatz gelangen können.

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Während Deutschland sein Geld – vermutlich vergebens – in die Erhaltung des arktischen Eisschildes investiert, bereitet sich Russland auf eisfreie Gewässer an seiner Nordküste und die dadurch mehr als wahrscheinlich werdende Umpolung der Weltschifffahrtsrouten vor und Trumps Amerika klopft vorsorglich bei den Dänen an, um zu erkunden, ob vielleicht die Zeit für einen Besitzerwechsel in Sachen Grönland gekommen sei: wichtige Puzzlestücke im Spiel um ökonomische und militärische Vorteile, bei denen die verfügbare Landmasse samt Küstenlinien, wie zu Zeiten der klassischen Politik, neben Bevölkerung und Militärmacht zum Schlüsselfaktor aufrückt. Dagegen gefährdet Europas weicher Unterleib im Verbund mit den ungelösten Problemen im Umgang mit seinen östlichen Nachbarn auf Dauer den Zusammenhalt und den Wohlstand des Kontinents und lässt die Konturen einer scheinselbständigen Schwund-EU hervortreten, die sich als Vollzugsorgan vorher bestellter UN-Beschlüsse eine Art Welt-Bedeutsamkeit attestiert, an der außer ihr niemand so recht interessiert ist, es sei denn einige davon profitierende Klienten-Staaten in Afrika und anderswo.

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Das muss nicht schlecht sein. Vor allem dann nicht, wenn es endlich gelingt, die hausgemachten Probleme im institutionellen Bereich, sprich: das leidige Demokratiedefizit mit den gebotenen Mitteln anzugehen. Wer glaubt, es könne gelingen, die nationalistische Versuchung, sprich: den galoppierenden Abfall der nationalen Bevölkerungen vom europäischen Projekt mit sprach- und informationspolitischen Finessen zurückzudrehen, der muss am Ende allzu viele allzu vieles glauben machen. Das kann nicht gut gehen. Dass dergleichen schon heute nicht gut geht, zeigt neben dem Verfall der westlichen Öffentlichkeit der Verfall der im Zeitalter der Wissensgesellschaft wichtigsten gesellschaftlichen Institution: der Wissenschaft. Was noch vor wenigen Jahren sich unangefochten brüsten durfte, die Welt mit dem Stoff zu versorgen, aus dem die Zukunft der Menschheit hervorgeht, es sei denn, sie zöge den Absturz in Chaos, Hunger und die finale Katastrophe vor, steht heute im Verdacht, sein eigenstes Betriebsmittel, den freien Gedankenaustausch und die Freiheit des Denkens selbst dem identitätspolitischen Phantasma zu opfern, das da lautet: Was immer du sagst, forschst, lehrst, ist nichtig und verdient es, eliminiert zu werden, wenn es die Befindlichkeiten von Gruppen stört, die den Campus, mit politischer Billigung, als ihr ureigenstes Gelände entdeckt und okkupiert haben. Welche Gruppen das sind, weiß alle Welt. Niall Ferguson, der Historiker, brachte es für die angelsächsische Universität auf einen speziellen Punkt: »In diesem Regime sind Professorinnen von Gendergeschichte gefragt, ein neuer Professor für – sagen wir – Militärgeschichte ist im Gegenzug undenkbar geworden.« (NZZ v. 20. 3. 2019)

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So einfach geht Wissenschaft (manchmal). Aber nicht nur Wissenschaft ist so einfach geworden. Im öffentlichen Raum geht es, um zu den deutschen Verhältnissen, den incertitudes allemandes zurückzukehren, nicht bloß um Besetzungen. Ebenso geht es um Ent-setzungen im taktischen Ringen um das Entsetzliche, sprich: die erinnerungspolitische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, deren deutsches Doppelantlitz gemäß den Vorstellungen gewisser Kreise einmal mehr unter der Einheitsmaske leicht durchschaubarer Sprachregelungen zum Verschwinden gebracht werden soll. So harrt der geradezu exemplarische politische Häftling der DDR, Siegmar Faust, noch immer auf das Angebot, seine Führungen in der Gedenkstätte Hohenschönhausen bzw. der von ihm mitorganisierten Gedenkstätte Zuchthaus Cottbus wieder aufzunehmen – für ihn keine bloße Geste der Wiedergutmachung, nachdem ihm in einigen Medien übel mitgespielt wurde, sondern ein wichtiges Stück Existenzsicherung im Alter. In einem Offenen Brief an den Bundesvorsitzenden der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft, den CDU-Politiker Dieter Dombrowski, schreibt er: »Jeder, der mich kennt, weiß, dass ich weder ein Holocaustleugner noch ein Verharmloser des Nazi-Regimes oder ein Sympathisant des schwerkranken Horst Mahlers war und bin… Ich habe den von Dir vorgeschlagenen Widerspruch an die Berliner Zeitung eingereicht, habe eine Abfuhr erhalten, weil sie meine Sätze angeblich auf Tonband hätten. Ich forderte sie auf, das Tonband zur Untersuchung dem Landeskriminalamt zu übergeben – vergebens. Ich ging zur Polizei und stellte eine Anzeige und bekam den Bescheid, dass dies kein Fall für die Staatsanwaltschaft sei. Ich schrieb der Oberstaatsanwältin zurück, was sie denn persönlich machen würde, wenn sie so verleumdet worden wäre, darauf sie mir nur antwortete, dass sie mir ›keinen Rat geben kann und darf‹. Nur: Ich solle zivilrechtlich klagen. Ja, dafür braucht man einen exzellenten Fachanwalt, um gegen einen verkappten SPD-Konzern (...) etwas ausrichten zu können. Ich kann mir das weder leisten, noch habe ich die Geduld dafür, denn ich verteidige mich halt auf meine Weise, selbst wenn ich dabei den Kürzeren ziehen sollte.«

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Die Faust-Artikel des Berliner Journalisten Markus Decker, insbesondere das Interview vom 30. Mai 2018 und der nachgeschobene ›Kommentar‹ vom 31. Mai 2018 in der Berliner Zeitung, desgleichen Fausts Gegendarstellungen sollten bei einiger Recherche für jedermann einsehbar sein. Auch ist es keineswegs so, dass Fausts Sicht auf den Vorgang keine öffentlichen Fürsprecher gefunden hätte – nur eine Rehabilitation an den diversen Gedenkstätten hat es bisher nicht gegeben. Wenn man sich fragt, was die BZ seinerzeit bewogen haben mag, dem Feldzug eines einzelnen Journalisten gegen den einstigen Bürgerrechtler, der für die Freiheit des Wortes im Cottbuser Isoliertrakt einsaß, bereitwillig Raum zu geben, hingegen über seinen Einspruch hinwegzusehen und ihm offenbar den gewünschten Zugang zur Aufzeichnung des, Fausts wiederholten Einlassungen zufolge, verfälschend wiedergegebenen Gesprächs zu verweigern, dann darf man sich daran erinnern, dass der Spiegel-Autor Konstantin von Hammerstein bereits vorher von Fausts altem Weggefährten Biermann für einen Anfang 2018 erschienenen Artikel einschlägig geimpft worden war, nachdem Faust letzterem, offenbar im privaten Gespräch, kundgetan hatte, AfD zu wählen (nicht etwa in sie einzutreten oder für sie zu kandidieren). Es ging und geht also auch in diesem Fall um die AfD bzw. den ›Kampf gegen Rechts‹, wie die anschließenden Ereignisse in und um den Förderverein der Gedenkstätte Hohenschönhausen in schöner Deutlichkeit zeigten. In diesem Kampf war und ist Faust kaum mehr als ein Bauernopfer – ein wertvolles immerhin, weil mit ihm ein Opfer des Unrechtsregimes, das seine eigene Verfassung, wie der Zweck es eingab, nach Belieben an- und ausschaltete, als Zeitzeuge und moralische Instanz ausfällt.

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Der ›Kommentar‹ genannte Artikel des Journalisten Decker in der BZ vom 31. 05. 2018 trägt den richtungweisenden Titel Die Aufarbeitung des DDR-Unrechts gerät in Schieflage. Er beginnt mit den Worten: »Von der ehemaligen Bürgerrechtlerin und Stasi-Unterlagenbeauftragten Marianne Birthler stammt der zutreffende Satz: ›Es gibt eben keine Garantie, dass man in seinem Leben immer auf der richtigen Seite steht.‹ Auf den ehemaligen politischen Gefangenen Siegmar Faust trifft dieser Satz zu 100 Prozent zu.« Der debattenerprobte Leser reibt sich verwundert die Augen: Was bitte versteht Frau Birthler, vorausgesetzt, sie hat es genau so gesagt, unter der Garantie, ›in seinem Leben immer auf der richtigen Seite‹ zu stehen? Wer soll hier was garantieren (oder, falls er nicht für sich bürgen kann, Kompetenteren das Sagen überlassen)? Mit Meinungsfreiheit, mit Demokratie gar, hat dieser Satz der ehemaligen Beauftragten, falls er denn so gefallen sein sollte, jedenfalls nichts am Hut. Warum also zitiert der Journalist gerade ihn, als enthalte er eine unumstößliche Wahrheit? Wobei man die gedankliche Volte nicht außer acht lassen sollte, dass offenbar auch Fälle denkbar sind, in denen der Satz nur zu 50 oder 10 Prozent zutrifft. Wie das? Gibt es erlesene Persönlichkeiten, bei denen man zu 50 oder 90 Prozent sicher sein kann, dass sie immer auf der richtigen Seite anzutreffen sein werden? Wer das wohl sein mag? Auf welchen Seiten man sie wohl antreffen wird?

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Bei Faust, dem 100-Prozent-Mann, gibt’s keine Garantie: Wer, so wie er, gestern dem DDR-Staat lästig fiel, der steht auch heute für nichts als Ärger. So jedenfalls lässt sich das einleitende Statement lesen, dem der Rest des Artikels, durch das zitierte Birthler-Wort eingespurt, getreulich folgt. Die Frage Wer ist Faust? ist mit dem Statement bereits beantwortet und die Exekution nimmt ihren Lauf. Nimmt man die Frage wieder auf, so reibt man sich die Augen, wenn man erfährt, dass hier mitnichten ein politischer Aktivist auf dem Prüfstand steht, dessen Wort auf der parteipolitischen Waage gewogen zu werden verdient, weil es gerade dort sein spezifisches Gewicht besitzt, sondern um einen Moralisten, einen Mann des Wortes, einen aus der Riege derer, die man noch vor ein paar Jahren ›Intellektuelle‹ nannte und für die ganz speziell das eine Wort galt: unbequem. Wie viele Schriftsteller haben sich in diesem Lande vergebens die Finger wund geschrieben, um sich das Epitheton zuzueignen? Hier steht einer, auf den es zutrifft, und es ist: unerhört. Man kann das kurios finden oder – unerhört. Tatsache ist, dass dieses Land es sich seit ein paar Jahren nicht mehr erlaubt, einem Schriftsteller zuzuhören. Er wird verhört, überschrieben und überschrieen, ganz nach Verfolger-Gusto, aber er wird nicht gehört. Warum? Der Birthler-Satz (immer vorausgesetzt, er ist so gefallen) sagt es doch unumwunden: Wenn du auf der richtigen Seite stehst, wissen wir, was du meinst, wenn du auf der falschen stehst, wissen wir es auch.

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Die richtige Seite, auf der Faust steht und für die er einsteht, ist die Gedanken- und Meinungsfreiheit. Für sie saß er im DDR-Knast, für sie steht er auch dann, wenn er sich damit in Gegensatz zur Freiheit der Windmacher setzt, denen Freiheit nur bedeutet, auf der jeweils richtigen Seite zu stehen, weil sie nun einmal das Sagen hat. Er ist aber nicht so frei, Gedankenfreiheit für Gedankenlosigkeit oder die Rechtfertigung oder Verharmlosung oder Leugnung verbrecherischer Gedanken oder gar des Verbrechens selbst zu fordern oder zu rechtfertigen oder entgegen aller Denk- und Sprachverpflichtung zuzudecken, was einst ›im deutschen Namen‹ oder von Deutschen an Verbrechen geschah: Nichts liegt ihm ferner, er hat es wieder und wieder in Wort und Schrift bekundet. Faust schreibt (und redet), wie ihm ums Herz ist. Das erst lässt die rufzerstörende Attacke so unsäglich erscheinen.

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Ein nicht autorisiertes Interview, ein paar schwammige, vom Interviewten aufs Heftigste bestrittene, in der Folge bis an die Grenze des Absurden und darüber hinaus zurechtgezupfte und -interpretierte Formulierungen – das ist der Stoff, dem in diesem angeblichen ›Fall‹ das große Schweigen folgt: Welcher Amtsinhaber wollte sich damit befassen? Das auf den Westen der Republik ausgreifende Demokratie-Defizit des Ostens, von berufener und weniger berufener Seite fleißig beschworen, hier kann man ihm gleichsam bei der Arbeit zusehen und wundert sich angesichts der Namen und Verlautbarungen der Involvierten.

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Gäbe es das ideale Lese-Publikum dieser Republik, so könnte man sich einen Aufruf vorstellen, verfasst und unterzeichnet von ein paar Wortführern (die es immer geben muss, sonst wird aus der Sache nichts) und adressiert an die schreibende Medienzunft, die ebenso gestrengen wie anonymen Wikimedia-Bastler, die sich regenden oder nicht regenden Hände in der Kulisse, ohne die keine Öffentlichkeit auskommt – einen Aufruf, der mit den Worten beginnen könnte: Gebt uns unsere Schriftsteller wieder… Wie das? Schreiben nicht viel zu viele auf viel zu vielen Kanälen, viele davon ohne Rücksicht auf Reputation und Verlässlichkeit, wie sie ein Gemeinwesen von seinen Repräsentanten (und Schriftsteller sind von Haus aus Repräsentanten) verlangen muss? Die ›viel zu vielen‹: das Maß dafür besäßen gern viele. Die Frage ist aber – und sie harrt der Klärung –, wer in einer Öffentlichkeit das Sagen hat: diejenigen, die etwas zu sagen haben, weil der Stoff ihres Nachdenkens jene öffentliche Sache ist, ohne die keine Öffentlichkeit existiert, oder ein Tross aus Aufpassern und Büchsenspannern, dessen supponierte Allgegenwart das freie Wort hinter tausend Vorbehalten verkümmern lässt, die am Ende doch nur auf den einen hinauslaufen: Ich könnte missverstanden werden und das wäre für mich sehr sehr schlecht.

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Jeder kann missverstanden werden, in jeder Sache und zu jeder Zeit. Im produktiven Missverständnis liegt das Prinzip liberaler Öffentlichkeit. Solange die Worte hin und her fliegen, ohne dass hinter jedem Busch Sanktionen lauern, die ängstlich und manchmal panisch bedacht werden wollen, ist die Freiheit des Wortes kein leerer Traum. Einlassungen von der Art Und-dann-hat-er-gesagt-und-dann-hat-er-gesagt-und-damit-hat-er-xy-gesagt-und-damit-nageln-wir-ihn-ans-Kreuz-der-Nichtachtung gehören zu einem Traum anderer Art, dem Albtraum der Bespitzelung des privaten und der Besetzung des öffentlichen Raumes nach dem gleichen Muster, das Ferguson, wie andere vor und nach ihm, für den akademischen Campus und sein Umfeld so anschaulich beschreibt: »… die neuen Akademiker verfolgten – machtpolitisch klug und sehr erfolgreich – ihren Eigennutz und ihre Karriere konsequent. Wer sich weiterhin für die Geschichte des Kanons interessierte, wurde ausgebootet. (...) Was mir Sorgen macht, ist die Verarmung des intellektuellen Diskurses. (…) Der Rahmen des Sagbaren im akademischen und öffentlichen Raum hat sich in den letzten Jahren drastisch verengt. Evidenzbasierte Argumente spielen keine Rolle mehr. Es gewinnt, wer die lautesten Unterstützer hat, und es verliert, wer um seine Reputation fürchten muss.«

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Wen interessiert es, welcher Partei der Privatmensch X in freier und geheimer Wahl zu einem gegebenen Zeitpunkt y die Stimme gegeben hat? Wen darf es interessieren, vorausgesetzt, er drängt diese seine Wahl nicht nach dem Muster gewisser Promis einem ungewissen Lesepublikum auf? Woher nimmt ein Privatmensch mit Zugang zu den Medien das Recht, einen anderen unter Berufung auf ein privat geführtes Gespräch öffentlich bloßzustellen? Jemand muss, abgesehen von der persönlichen Komponente, sehr wenig Respekt für die grundlegenden Regeln des demokratischen Gemeinwesens besitzen, um einen solchen moralisch-politischen Fauxpas überhaupt in Erwägung zu ziehen, es sei denn, er ist so in die angesagten Kämpfe verwickelt, dass ihm die Gäule durchgehen, vorausgesetzt, er verfügt über welche und es steht nicht nur der bräsige Wunsch dahinter, sich wichtig zu machen, da man schon einmal gefragt wird. Andererseits: Was hat man vom politischen Urteil eines Schriftstellers zu halten, der noch Lieder gegen den demokratischen Klassenfeind trällerte, als ihn das eigene System bereits unsanft in dessen Richtung entsorgt hatte, bloß um ein paar Jahre später im Deutschen Bundestag den erzdemokratischen Drachentöter zu geben? – Was soll’s! Er ist ein Dichter und seine ›Wenden‹ gelten als authetisch: Man will das verbale Muskelspiel sehen, die inneren Kämpfe, die jede äußere Auseinandersetzung begleiten, die Regsamkeit des Geistes, dieses zumindest, nicht die öde Litanei der Gesinnung, zu deren Abraspeln jeder subalterne Charakter taugt. Dafür braucht’s keine Schriftsteller, das Wort im Vollsinn genommen, keine Dichter, keine Intellektuellen. Es braucht sie aber. Wen kümmert es, ob so einer konservativ-kritisch, liberal-konservativ oder konservativ-progressiv oder progressiv-progressiv daherkommt: Er soll zu denken geben, er soll vormachen, wie es geht, das Denken, er soll Lust einflößen, es zu versuchen, hin und wieder zumindest, wenn die Parteilinie schwankt oder die Gesellschaft in Nöten steckt oder das Subjekt seine Sinnkrise nimmt. Darauf kommt es an.

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Wenn da und dort von der demokratischen Kernschmelze Europas die Rede ist, dann darf das ›globale Umfeld‹ nicht vergessen werden, in dem dergleichen passiert. Wer sich von Diktaturen umzingelt sieht, neigt zum Appeasement und zu unkontrolliertem Hochmut gegenüber den klassischen Demokratien, die ihren Weg unbeirrt fortsetzen: aus keinem anderen Grund als dem, dass er glaubt, es sich leisten zu können oder sogar aus machttaktischen Zwängen zu müssen. Parallel dazu wird im Inneren nicht selten der Bote zum Sündenbock gestempelt, vor allem dann, wenn die Versäumnisse obenauf liegen und vergebens nach Verantwortung rufen. Er bleibt aber der Bote und es bleibt eine Barbarei ohnegleichen zu glauben, man könne den Boten schlachten und die Botschaft für sich behalten. Als wohlgelittener Denker vor dem undemokratischen Zug einer Herrschaftselite zu warnen, die unbeirrt einen Kurs fährt, der einst mehrheitsfähige und mehrheitswillige Parteien an den Rand der Selbstauflösung katapultiert, und dafür populistische Stimmenfänger verantwortlich zu machen, als stünde deren Diktatur auf der Tagesordnung und als würde durch den ›Kampf‹ gegen sie, gleichgültig, ob über oder unter der Gürtellinie, alles gut, klingt irgendwie unredlich und lässt das ›Geschäft‹ der Intellektuellen zur Klitsche verkommen. Wer sich von denen, die einst unter anderen Umständen aufbegehrten, unter solchen Umständen ›angekommen‹ glaubt und sich darin einrichtet, der übersieht leicht, dass der Zug bereits wieder rollt und er bald allein auf dem Bahnsteig herumstehen wird. »Sei’s drum! Es kommen andere Züge – wen kümmert das Ziel?« So schweigt, wer an der falschen Stelle redet und schweigt, über die Zukunft der eigenen Zunft, als sei sie bereits vergangen und jetzt gehe es eben um anderes.

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Zug um Zug erweisen sich die Jahre 2015ff. für das Schicksal der deutschen Intellektuellen als ebenso einschneidend wie einst im Westen der ›deutsche Herbst‹ 1977. Damals diffundierte, nach kurzer Leidenszeit, der dominante Typus des ›linksliberalen‹ Intellektuellen, der die späten sechziger und siebziger Jahre beherrscht hatte, mit seiner latenten, durch die Studentenrevolte genährten und anschließend in Larmoyanz versinkenden Revolutionssehnsucht, seiner verschwiegenen Sympathie mit der RAF (deren Taten man selbstverständlich missbilligte) und seiner hemmungslosen Herrschsucht auf allen Feldern des öffentlichen Diskurses, um Kerntechnikern, Biosphärenspezialisten und Systemtheoretikern Luhmannscher Provenienz Platz zu machen, deren eindrucksvoller Aufstieg durch die parteipolitische Konsolidierung der grünen Bewegung ermöglicht und durch einen neuen Typus der Kapitalismuskritik ergänzt wurde: Kapitalisten, rettet die Umwelt! Warum wollt ihr euch dieses Geschäft entgehen lassen? Die von Sartre vorausgesehene Abdankung des allzuständigen, marxistisch imprägnierten Großintellektuellen nahm ihren Lauf. Heute ist es, nach neoliberalem Zwischenspiel, die elementare intellektuelle Funktion der freien Orientierung, die unter die Räder kommt, weil der entstandene Riss in der Gesellschaft von ihren politischen Stichwortgebern mit immer neuen Phrasen überkleistert und dabei unentwegt neu aufgerissen wird, kurz: durch die antiintellektuelle Wiederbelebung des Anderen als Dämon.

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Das Politische ist nicht länger die Lösung der intellektuellen Probleme, es ist, je weiter die Krise sich einfrisst, das Problem.