Ulrich Siebgeber - ©LG
Ulrich Siebgeber
Vergessen hilft. Aber nicht wirklich.
 

 

Siebgebers Kolumne entstand in den späten Jahren der Merkel-Herrschaft, die geprägt wurden durch ein Klima des politischen Konformismus und der Zuspitzung gesellschaftlicher Differenzen nach dem Motto Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich und muss aus der öffentlichen Debatte entfernt, zumindest unsanft an den Rand gedrängt werden. Gleichzeitig wurden politische Entscheidungen getroffen, deren Brisanz für jeden Einsichtigen offenlag und deren verheerende Auswirkungen das Land gegenwärtig nach und nach zu spüren beginnt.
Siebgebers Aufzeichnungen enden am 8. Mai 2020. Zusammengefasst und nach Themen geordnet lassen sie sich nachlesen in dem Buch Macht ohne Souverän. Die Demontage des Bürgers im Gesinnungsstaat, das 2019 erschien und nebenher das Pseudonym, besser, die literarische Maske des Autors aufdeckte. Im Land der Masken wirkt dergleichen Mummenschanz ohnehin wie aus der Zeit gefallen. Was nicht gegen ihn sprechen sollte.
Ulrich Schödlbauer

von Ulrich Siebgeber

Was soll schon sein? Vor die Wahl gestellt, das Land oder die Welt zu retten, entscheidet der deutsche Wähler sich für die Welt. So ließe sich das Ergebnis der Europawahl 2019 bündig deuten. Mit dem Abtauchen der Christdemokraten unter die 30-Prozent-Grenze – vom Tiefenrausch der Sozialdemokraten zu schweigen – hat das Modell ›Volkspartei‹ für lange Zeit ausgedient und die polare Sogwirkung von Links- und Rechtspopulismus beherrscht die Agenda. Wobei den Grünen auf der Woge des Greta-Hypes ein Kantersieg gelang, der sich in dieser Form nicht wiederholen, aber, immerhin, das Muster der anstehenden Landtagswahlen prägen wird. Zeit also, darüber nachzudenken, wie die erreichte Wählerkonstellation sich in Macht verwandelt, in wirkliche Macht, die sich in der Sitzverteilung des Europaparlaments und in den kommenden Landtagen spiegeln mag, aber eben nur spiegeln, denn Macht beginnt und endet in den Köpfen, dort, wo Politik konzipiert und letztlich durchgesetzt wird.

1. Die öffentliche Dämonisierung und parlamentarische Ausgrenzung der ›Rechten‹ mag ihren Aufstieg hier und da bremsen. Im Ganzen kann sie ihnen nichts anhaben, es hilft ihnen sogar, denn es bestätigt ihr Selbstbild: Wir gegen die Anderen. Diese Anderen, also die Parteien des Spektrums, das sich mangels unbelasteter Begriffe das ›demokratische‹ nennt, marginalisieren ihre Gegensätze, soweit sie bestehen, in der Wählerwahrnehmung durch den bedingungslosen Kampf gegen Rechts. Der Verlust an Unterscheidbarkeit ist der Kern der Unglaubwürdigkeit, die sich an ihre Fersen geheftet hat: Unglaubwürdig ist, wer auf seine ›Verdienste‹ verweist und den Konkurrenten zum Feind erklärt, der ›unsere‹ Errungenschaften in Frage stellt.

2. Die Popularität des Populismus, das Wort in der heutigen Bedeutung genommen, ist kein vorübergehendes Unmutsphänomen, sondern die Antwort der Wahlbürger auf die Neutralisierung des Wählerwillens durch bürokratische Prozeduren, für die – stellvertretend oder mit vollem Recht – in Europa der Name ›Brüssel‹ steht. Populismus ist weder ein ›rechtes‹ noch ein ›linkes‹ Phänomen. Er steht für die Überzeugung, dass Grundlegendes geschehen muss, gleichgültig, ob damit der Umbau der europäischen Institutionen oder der kapitalistischen Wirtschaftsweise oder, vielleicht der heikelste Punkt, der westlichen, am Individualismus orientierten Konsum- , Lebens- und Glaubenswelten gemeint ist. In diesem Sinn ist auch der politische Islam, soweit er nicht mit Terrorismus gleichgesetzt wird, ein Populismus – in Europa ein Populismus im Kommen mit bereits merklicher Durchsetzungskraft.

3. Die Grünen, dieser fortgeschrittenste Populismus, haben auf ihre Weise bewiesen, dass in diesem Rennen temporär die Nase vorn hat, wer die Ängste der Bevölkerung am suggestivsten kanalisiert. Der Hurrikan ›Greta‹ mag sich in dieser Form nicht wiederholen. Aber es werden andere an seine Stelle treten, ohne dass sich mit Sicherheit ausmachen lässt, wann und an welcher Stelle sie auftreten und von wem sie ausgehen werden. Der Grund liegt in der durch Internet und soziale Medien dauerhaft veränderten Öffentlichkeit. Strukturell und auf lange Sicht mag sich das differenzierter darstellen, wie die dauerhafte Präsenz grün-ökologisch Sozialisierter in den Medien und auf den mittleren Ebenen der Regierungs- und Verwaltungsapparate andeutet. Auch die beharrliche Tunnelarbeit linksaußen sollte in dieser Hinsicht nicht unterschätzt werden. Schwindet das Bewusstsein der Leute, in freier, geheimer und selbstbestimmter Wahl über das Schicksal des Landes zu bestimmen, nimmt die Systemopposition und damit die populistische Versuchung zu.

4. Schmutzkampagnen wie die durch das Strache-Video in Österreich inszenierte hingegen lohnen den Aufwand nicht, wenn das, was mit ihnen bewiesen werden soll – die Korruptheit und mangelnde demokratische Standfestigkeit der jeweils anderen Seite – durch allgemein verfestigte Überzeugung bereits konsumiert ist. Auch dafür sorgen die sozialen Medien, die einen nicht unbeträchtlichen Teil der Energie ihrer Kundschaft auf dieses Feld lenken: Unglaublich! Unfassbar! Unerhört! Wir erfahren ja nicht, was wirklich läuft! So schallt der Chor der Betrogenen, der es prompt übelnimmt, wenn die etablierten Kräfte ins gleiche Horn stoßen.

5. Wer glaubt, den Rechtspopulisten seien durch diese Wahl die Zähne gezogen worden, sollte das europäische Gesamtergebnis mit Sorgfalt studieren. Europäische Öffentlichkeit lässt sich nicht nach Bedarf in den angeblich überholten nationalen Grenzen an- oder ausschalten. Gerade sie ist eine Öffentlichkeit im Werden – in langsamen, zähen, widersprüchlichen Prozessen, die sich am Ende doch wieder in einem vereinen. Ein deutscher Sonderweg ist das letzte, was die Deutschen als folgsame Europäer sich leisten sollten. Die ›rechte‹ Stigmatisierung dieser Bewegungen, die sie als Wiedergänger aus einer fatalen Vergangenheit erscheinen lassen soll, mag ihre passenden Figuren in diesen Parteien finden, aber sie wird deren gegenwartsbezogenen Stärken nicht gerecht. Insofern wird hier viel Geld und Energie an der falschen Stelle verpulvert – von den Parteien der Konkurrenz, vor allem auf der gemäßigten Linken, die darüber ihres Markenkerns verlustig gehen, weniger von den üblichen Medien, die sich an die Empörungsreflexe der Lesenden klammern wie an den berühmten Strohhalm, dessen Zeit, wenn wir Brüssel glauben sollen, ohnehin abgelaufen ist.

Wenn ›Europa‹, wie gesehen, ein Heißluftballon ist, dann haben die Wähler gerade einen erbitterten Kampf um den Platz am Brenner erleben dürfen. Eine Richtungswahl war nicht zu erkennen, wohl aber ein Gerangel um einige der wärmsten Plätzchen, die Europa gegenwärtig zu bieten hat: vollklimatisiert, zurückgezogen, weltoffen, verantwortungs- und risikofrei, ein Tummelplatz für Weltverbesserer mit einem Sinn für Stil und Ambiente. Wohl bekomm’s, möchte man meinen und: Viel Spaß! Oh ja, sie werden Spaß haben, unsere Vertreterinnen und Vertreter, sie den ihren und der Wähler den seinen. Ein bisschen in mediale Ungezogenheiten verpackter Unmut ante portas, das schadet keinem und hilft dem Teint, weil es auch die Schein-Mächtigen hin und wieder vor den Spiegel zwingt.