Ulrich Siebgeber - ©LG
Ulrich Siebgeber
Vergessen hilft. Aber nicht wirklich.
 

 

Siebgebers Kolumne entstand in den späten Jahren der Merkel-Herrschaft, die geprägt wurden durch ein Klima des politischen Konformismus und der Zuspitzung gesellschaftlicher Differenzen nach dem Motto Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich und muss aus der öffentlichen Debatte entfernt, zumindest unsanft an den Rand gedrängt werden. Gleichzeitig wurden politische Entscheidungen getroffen, deren Brisanz für jeden Einsichtigen offenlag und deren verheerende Auswirkungen das Land gegenwärtig nach und nach zu spüren beginnt.
Siebgebers Aufzeichnungen enden am 8. Mai 2020. Zusammengefasst und nach Themen geordnet lassen sie sich nachlesen in dem Buch Macht ohne Souverän. Die Demontage des Bürgers im Gesinnungsstaat, das 2019 erschien und nebenher das Pseudonym, besser, die literarische Maske des Autors aufdeckte. Im Land der Masken wirkt dergleichen Mummenschanz ohnehin wie aus der Zeit gefallen. Was nicht gegen ihn sprechen sollte.
Ulrich Schödlbauer

von Ulrich Siebgeber

Manchmal genügt es nicht zu schreiben – man muss zitieren. Als einen solchen Fall sehe ich die nachfolgende Passage aus dem jüngsten Blogeintrag Herbert Ammons an. Der Grund dafür erschließt sich dem Lesenden rasch: Wer von der schreibenden Zunft dieses Landes seit Wochen so diffamiert, verhöhnt und beleidigt wird wie die Unterzeichner der Gemeinsamen Erklärung 2018, der hat auch das Recht, dort das Wort erteilt zu bekommen, wo die Verhältnisse selbst zu erklären beginnen, ›wie es ist‹, oder, wie es im Jargon einer mittlerweile auf dem Altenteil angekommenen Generation hieß, sich zur Kenntlichkeit herablassen:

»Als einer der Erstunterzeichner der ›Erklärung‹ wurde ich von der Redaktion der konservativen (!) Zeitschrift ›Cato‹ zu einer Begründung meiner Unterstützung der Initiative gebeten. In meiner Antwort schrieb ich u.a. folgendes: ›Es ist evident, dass die seit Jahrzehnten in den westeuropäischen Ländern verfolgte ›Einwanderungspolitik‹ kulturell-soziale Verwerfungen mit sich bringt, die das Konzept von freiheitlicher Demokratie, von Rechts- und Sozialstaat gefährden. Wenn sich die Prozesse kulturell-sozialer Desintegration fortsetzen, zeichnet sich das Bild eines autoritären, mafiotisch durchsetzten Staates ab.‹

Die Aussage des zweiten Satzes fand in diesen Tagen prompte Bestätigung durch in der weltoffenen Hansestadt Bremen bekanntgewordenen Praktiken. Die Leiterin der Außenstelle Bremen (im Range einer Oberregierungsrätin) des Bundesamtes für Migration und Flüchtlingen (Bamf) wurde suspendiert, weil sie im Verdacht steht, im Zeitraum 2013 bis 2016 etwa 1200 abgelehnten, vorwiegend jesidischen Asylbewerbern positive Asylbescheide ausgestellt zu haben. Die Dame handelte nicht nur aus Mitleid für die refugees –, sondern – abzulesen an entsprechenden Botschaften auf Twitter – auch aus ideologischen Gründen, last but not least aus weniger moralischen Gründen. Gegen sie und fünf weitere Personen – drei Rechtsanwälte, ein Dolmetscher sowie ein ›Vermittler‹ – ermittelt die ›Zentrale Antikorruptionsstelle‹ in Bremen wegen ›gewerbs- und bandenmäßiger Verleitung zur missbräuchlichen Asylantragstellung sowie wegen Bestechung und Bestechlichkeit‹. (Reinhard Bingener: ›Gut beschützt im hohen Norden‹, in: FAZ nr. 93 v. 21.04.2018, S.4).

Dass an den Außenstellen der Asylbehörde Bamf seit langem nach unterschiedlichen Kriterien – sprich ideologischen Grundstimmungen – entschieden wird, hat der Konstanzer Politikwissenschaftler Gerald Schneider dargelegt. Im Falle Bremen kommt nun eine weitere Pointe hinzu: Bei der Durchsuchung der Räume eines der beschuldigten Rechtsanwälte wurde ›zu allem Überfluss‹ (Bingener) auch noch eine illegale Schusswaffe samt Munition gefunden. Das ganze erinnert an amerikanische Mafia-Filme. Immerhin: Die deutsche Justiz kam diesmal der Unterwanderung des Rechtsstaats in der Stadt Bremen noch auf die Spur.«

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So what, werden achselzuckend all diejenigen sagen, denen das Ergebnis – die möglichst reibungslose Aufnahme einer möglichst großen Zahl von refugees in den deutschen Sozialstaat – ohnehin über Recht und Gesetz geht. So what, werden all diejenigen sagen, die darin nur einen weiteren Strich im Untergangsgemälde der Republik sehen und der Auffassung huldigen, man dürfe ruhig, was fällt, auch ein wenig stoßen. Länge läuft, seufzt der Demokrat, Korruption bleibt Korruption, Betrug bleibt Betrug, Missbrauch bleibt auch dann Missbrauch, wenn er stillschweigend oder unter dem Beifall von Gesinnungsfreunden zum Brauch avanciert. Der Fall bietet ein schönes Beispiel dafür, dass der Missbrauch dem Brauch vorangeht: Er ist immer bereits zur Stelle, sobald sich ›etwas Neues tut‹. Je länger der Rausch des Neuen anhält, desto härter wird es, den Missbrauch zurückzudrängen. Gräbt er sich tiefer ein und erfasst auch die Organe der Strafverfolgung, dann tritt jener Systemwechsel ein, von dem politische Analphabeten träumen.