Ulrich Siebgeber - ©LG
Ulrich Siebgeber
Vergessen hilft. Aber nicht wirklich.
 

 

Siebgebers Kolumne entstand in den späten Jahren der Merkel-Herrschaft, die geprägt wurden durch ein Klima des politischen Konformismus und der Zuspitzung gesellschaftlicher Differenzen nach dem Motto Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich und muss aus der öffentlichen Debatte entfernt, zumindest unsanft an den Rand gedrängt werden. Gleichzeitig wurden politische Entscheidungen getroffen, deren Brisanz für jeden Einsichtigen offenlag und deren verheerende Auswirkungen das Land gegenwärtig nach und nach zu spüren beginnt.
Siebgebers Aufzeichnungen enden am 8. Mai 2020. Zusammengefasst und nach Themen geordnet lassen sie sich nachlesen in dem Buch Macht ohne Souverän. Die Demontage des Bürgers im Gesinnungsstaat, das 2019 erschien und nebenher das Pseudonym, besser, die literarische Maske des Autors aufdeckte. Im Land der Masken wirkt dergleichen Mummenschanz ohnehin wie aus der Zeit gefallen. Was nicht gegen ihn sprechen sollte.
Ulrich Schödlbauer

Im Juni dieses Jahres entschied der Bundesgerichtshof, die Frage einer Grundrechtsverletzung durch die Festlegung auf eines von zwei Geschlechtern im Geburtenregister stelle sich nicht (Az. XII ZB 52/15). Kommuniziert wurde diese Entscheidung in ZEIT ONLINE mit der beachtlichen Schlagzeile: »Bundesgerichtshof lehnt drittes Geschlecht ab.« Die Erfahrung lehrt, dass es höchst verschiedene Arten – und Formen – der Ablehnung gibt. Welche Art der Ablehnung mag dieser Titel suggerieren? Es soll Mütter geben, die es ablehnen, ein drittes Kind zur Welt zu bringen. Manche wiederum lehnen ihr drittes Kind ab – eine familiäre Katastrophe und eine lebenslange Bürde für den lieblos aufgezogenen Nachwuchs.

Verzichten wir darauf, die Sache väterlicherseits durchzudeklinieren – vor dem BGH jedenfalls, so lehrt es die Schlagzeile, gibt es kein drittes Geschlecht, er lehnt es ab, gibt es vermutlich, nach misslungenem Abtreibungsversuch, zur Adoption frei, auch archaische Praktiken der Weggabe wären denkbar, stehen aber wohl nicht zur Diskussion. Kann Recht so hart sein?

Am 8. August war Earth Overshoot Day, der Tag, an dem die ökologisch nutzbaren Ressourcen des Planeten (›nature’s budget‹) für dieses Jahr aufgebraucht waren. Seitdem herrscht Raubbau an Mutter Erde, der Planet läuft der wirtschaftenden Menschheit durch die Finger, er schrumpft, bildlich gesprochen, von Jahr zu Jahr. Auch dieser fiktive Termin funktioniert wie eine Schlagzeile: falsch aber wahr.Natürlich beginnt der Raubbau mit dem ersten Tag, mit der ersten Sekunde jeden Jahres, wenn man davon absieht, dass er nie eingestellt wurde, also einfach fortläuft – etwa so, wie Mutter Natur die Produktion von sexuellen Varianten keineswegs gedrosselt oder vorübergehend eingestellt hat, um die Entscheidung des BGH abzuwarten. Nun lehnt der BGH die Existenz oder die – vorübergehende oder dauerhafte – Anwesenheit von Intersexuellen innerhalb des deutschen Rechtsraumes keineswegs ab, er verweigert ihnen nur, aus welchen Gründen auch immer, die Möglichkeit, eine eigene Rubrik im Geburtenregister einzuklagen. Doch ist die Parallele darum nicht minder auffällig. Denn auch der Planet schrumpft ja nicht, jedenfalls realiter, es gibt nur, von Jahr zu Jahr, weniger auszubeuten. Für Leute, denen Ausbeutung an sich ein Dorn im Auge ist, mag das eine frohe Botschaft sein, für andere, die von der Ausbeutung leben, wirft es immerhin die Frage auf, ob es für sie noch reicht oder ob genügend neue Planeten bereitstehen, wenn der alte ›den Geist aufgibt‹ oder wie die entsprechende Phrase wohl lauten mag.

So weit, so statisch gedacht. Dynamischer denkende Mitbürger weisen darauf hin, dass die ökonomisch und ökologisch nutzbaren Vorräte der Erde keineswegs alle erschlossen und verbindlich erfasst sind, so dass der Earth Overshoot Day auch in dieser Hinsicht eine Fiktion enthält. Genausowenig lässt sich der Anteil der Intersexuellen (und angrenzender Gruppen) an der Bevölkerung eines Landes verbindlich beziffern, jedenfalls solange es an angemessenen Erfassungsinstrumenten mangelt. Ein Kann-Bestimmung, wie derBGH sie für das Geburtenregister als ausreichend ansieht – die Geschlechtsangabe kanngestrichen werden –, fügt den Tatsachen zwar den Charme der Selbstbestimmtheit hinzu, lässt aber die Dunkelziffer automatisch in die Höhe schnellen. Welche Dunkelziffer? Die Zahl der Personen, die ihr wahres Geschlecht nicht kennen? Die Zahl derer, die ihr wahres Geschlecht zu kennen glauben, es aber aus Gründen, von denen sie annehmen, dass sie niemanden etwas angehen, vor ihren Mitmenschen – und selbst einem Register – zu verbergen wünschen? Die Zahl derer, die, über die medizinischen Fakten belehrt und im Bilde, keine Zeit oder Lust oder Gelegenheit finden, sich auf den Weg zur Behörde zu begeben? Die Zahl derer schließlich, die ohnehin gewillt sind, über kurz oder lang durch einen medizinischen Eingriff den Sachverhalt zu ändern?

So zu fragen setzt offensichtlich etwas voraus, was sich bei näherem Hinsehen ebenfalls als Fiktion herausstellt: eine Einheitsvorstellung von Sexualität und Gender, die weder den biologischen noch den sozialen noch den mentalen Gegebenheiten entspricht. Man brauchtnicht der Mein-Geschlecht-bestimme-ich-Fraktion angehören, um im Laufe seines Lebens in die Lage zu kommen, sein Geschlecht zwar nichtdefinieren, wohl aber mit individuellen Akzenten versehen zu müssen, die, statistisch betrachtet, so individuell nicht sind. So wenig der Bedarf der Menschheit an Rohstoffen für alle Zeiten demselben Muster folgt, so wenig lässt sich gelebte Sexualität an den Einträgen ins Geburtenregister ablesen. Während die Dunkelziffer an Rohstoffen und verwertbaren Naturprozessen, verglichen mit den bekannten Kennziffern des geschundenen Planeten, vor allem eines bedeutet Aufschub , verheißt die geschlechtliche Dunkelziffer demnach etwas völlig anderes: ein Plus an Forschungsthemen, -etats, Planstellen, Sollstellen, rechtlicher, medizinischer, psychologischer, sozialerAuf-, Vor- und Nachbereitung, Diversität der Lebensstile, gesellschaftlicher und politischer Repräsentanz und Präsenz etc., das letztlich durch ein Plus an Produktion erwirtschaftet und durch ein entsprechendes Plus an Konsum abgefackeltwerden muss.

Das mag ironisch klingen, ist aber eher resignativ gemeint. Die progressive Entdeckung und Ausbeutung menschlicher Ressourcen, die unter der Einheitsdecke konventioneller Begriffe und Lebensstile schlummern, besitzt in den hochtourigen Ökonomien des Westens (und Ostens) neben dem emanzipatorischen Zugewinn an Lebenslust und Gestaltungs-Spielräumen eine konsumistische Ader, die, Dunkelziffern hin oder her, statistisch gesehen dazu beiträgt, den Earth Overshoot DayJahr für Jahr etwas früher eintreten zu lassen, während das Lebensgefühl frisch emanzipierterGruppen und Grüppchen das genaue Gegenteil zum Ausdruck bringt, da sie sich in besonderer Weise mit dem Leben des Planeten imEinklang wissen. Wie viele(noch zu entdeckende)Formendes Andersseins verträgt der Planet? Wir wissen es nicht und werden es wohl niemals wissen. Selbst das Bedauern für diejenigen, die es, so oder so, zu spüren bekommen werden, wirkte gezinkt angesichts von Bevölkerungswachstum, Aufholökonomien und Migrationsbewegungen, die als Problemverstärker ersten Ranges das Leben aller verändern.