Ulrich Siebgeber - ©LG
Ulrich Siebgeber
Vergessen hilft. Aber nicht wirklich.
 

 

Siebgebers Kolumne entstand in den späten Jahren der Merkel-Herrschaft, die geprägt wurden durch ein Klima des politischen Konformismus und der Zuspitzung gesellschaftlicher Differenzen nach dem Motto Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich und muss aus der öffentlichen Debatte entfernt, zumindest unsanft an den Rand gedrängt werden. Gleichzeitig wurden politische Entscheidungen getroffen, deren Brisanz für jeden Einsichtigen offenlag und deren verheerende Auswirkungen das Land gegenwärtig nach und nach zu spüren beginnt.
Siebgebers Aufzeichnungen enden am 8. Mai 2020. Zusammengefasst und nach Themen geordnet lassen sie sich nachlesen in dem Buch Macht ohne Souverän. Die Demontage des Bürgers im Gesinnungsstaat, das 2019 erschien und nebenher das Pseudonym, besser, die literarische Maske des Autors aufdeckte. Im Land der Masken wirkt dergleichen Mummenschanz ohnehin wie aus der Zeit gefallen. Was nicht gegen ihn sprechen sollte.
Ulrich Schödlbauer

Kommt Zeit, kommt Morgenpost. »CDU-Chefin Angela Merkel hat zwar den erwarteten Sieg eingefahren, aber ihr persönlich schlechtestes Ergebnis und zugleich das niedrigste Resultat für die Christdemokraten nach 1949.« Nach dem Absturz der Regierungskoalition um dreizehn komma sieben Prozent, verbunden mit der Unmöglichkeit, in dieser Formation weiter zu regieren, eine wahrhaft heroische Aussage. Jeder frühere Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Helmut Kohl eingeschlossen, wäre an einem solchen Wahlabend zurückgetreten. Nicht so die regierende Kanzlerin, sie scheint im Traum nicht daran zu denken, für das Debakel ihrer Partei und der von ihr geführten Regierung irgendeine Verantwortung zu übernehmen, und die Führungsriegen beider Regierungsparteien scheinen es ihr gleichzutun.

Das Wort ›Niederlage‹ scheint aus dem Vokabular der Regierungsparteien und ihrer Claqueure gestrichen zu sein, falls es dort jemals existiert haben sollte. Wahrscheinlich kennen sie nur noch ›Lagen‹, die nach Gestaltung verlangen, ein Händchen vermutlich und ein Köpfchen dazu, das diese Aufgaben als ›reizvoll‹ empfindet und den Job zu preisen nicht müde wird, in dem dergleichen auch heute noch möglich ist. Schön, dass es so etwas gibt. Die Präsidenten und Regierungschefs der USA, England, Frankreichs – der Kernländer westlicher Demokratie – kommen und gehen, die Königin aller Deutschen lotet ihre Höhen und Tiefen aus und befindet, man kann damit leben, besser jedenfalls als im Reihenhäuschen oder vis à vis der Museumsinsel, auch wenn es dort schön ist, wenn abends die Sonne untergeht oder unser aller Morgen heraufwinkt.

So brutal ist kaum jemals eine deutsche Bundesregierung abgewählt – man kann auch sagen: vom Wähler mit dem Kopf gegen die Realitäten gestoßen – worden wie diese, und die möglichen Koalitionäre stehen, ein bisschen Kopfschütteln abgerechnet, bereits Schlange, damit weiter durchregiert werden kann. Das ist nicht das Ende der Demokratie, es ist Hohn: ganz recht, ein Hohn auf parlamentarische Gepflogenheiten, wenn die Seehofer und Lindner und Göring-Eckart und Özdemir samt Gefolge in den nächsten Tagen das Merkelsche Regierungsbett inspizieren werden, nachdem die Außenverteidiger sich am Wahlabend mit einem skeptischen Räuspern verausgabt haben. Die CDU hat nichts zu höhnen, sie betreibt, mit der Kanzlerin an der Spitze, seit längerem Selbstverspottung und befindet sich daher in einer komfortablen Lage. Mit dürren 26,8 Prozent Zweitstimmen ist sie die letzte verbleibende Volkspartei auf dem Parkett. Die SPD, der ein neues Godesberg gut zu Gesicht stünde, wird sich hastig aus der verbrauchten Rolle verabschieden und den Kampf gegen Rechts zur Raison d’être erklären, um den C-Parteien auf diesem originellen Umweg das Weiterregieren zu ermöglichen – bis in alle Ewigkeit, am besten darüber hinaus, denn damit hätte sie’s den Christen tüchtig gegeben. Als Doppelgänger ihrer verbliebenen und künftigen denkbaren Partnerparteien bleibt es ihr erspart, den Grips auf eigene Kosten einzuschalten. Das senkt die Stromkosten und bringt sie den Grünen, die keiner will außer denen, die immer wollen, näher als jede Gurke.

›Scherbengericht‹ nannten die alten Athener, die wussten, welche tyrannischen Neigungen in den Herzen der sympathischsten Bannerträger schlummern, eine Abstimmungsform, mittels derer sie ihre politischen Talente in die Wüste schickten, sobald sie Gefahren für die Verfassung ihres Gemeinwesens heraufziehen sahen. Nach allen Regeln des politischen Spiels haben die Wahlbürger dieser Republik am 24. 9. 2017 ein Scherbengericht veranstaltet und die Regierenden samt ihren opponierenden Stützen scheinen so dreist, es zu ignorieren. Immerhin haben sie bereits Übung im Ignorieren, schließlich verdanken sie ihren Absturz dem konsequenten Ignorieren der Wählersorgen, die bekanntlich von den Populisten bearbeitet werden und daher nicht weiter beachtet werden müssen, es sei denn, man hat gerade ein paar Schimpftiraden übrig und will sie dort loswerden, wo sie, dem Vernehmen nach, hingehören: Auf die Köpfe! Vieles in diesem Land geschieht ›dem Vernehmen nach‹, keiner weiß, ob es geschieht oder nicht geschieht, geschehen sollte oder doch besser nicht. Keiner? Nachdem die klugen Partei-Köpfe ausgeschaltet am Wegrand den Zug ins Leere betrauern und Worst-Case-Szenarien durchspielen wie andere Leute Schachpartien, nur so zum Zeitvertreib, ist das ein schlimmes Wort.