Aufnahme: ©rs

Das Einstein in der Kurfürstenstraße war das schönste und legendärste Caféhaus Wiener Prägung in Berlin. Man fand dort die tägliche Weltpresse ebenso wie Leute ›von Welt‹ (oder solche, die sich dafür halten): ›Monde‹ & ›Demi-Monde‹ reichlich, glücklich vereint. Dort auch sitzt der Flaneur, trifft sich mit Leuten, mit denen er beruflich zu tun hat, liest Zeitung, sieht schönen Frauen nach, unterhält sich über Ausstellungen, Theater etc. Die Kolumne des Berliner Philosophen Steffen Dietzsch, Bannkreis, versammelt – in loser Folge – die Resultate seines Flanierens: kleine Glossen, Artikel zur Sache. 

 

… neulich im Einstein

als die Gazetten euphorisch vom Wandel zur Demokratie in einigen arabischen Staaten Nordafrikas, gar des Nahen und Mittleren Ostens überhaupt kündeten, musste ich an die Geschichte von Kalif Storch denken: da war es ein – auch occidentelles (lateinisches) – Zauberwort und -mittel, das eine Lebens- & Erkenntnisverbesserung hervorzurufen versprach … im Märchen geht das gut aus – der zugereiste Zauberer, der jene Wunderdroge und das ›Passwort‹ – mutabor – anbot, wird sein eigenes Opfer, der natürliche (Herrschafts)Zustand von vorher wieder hergestellt. – Kann das vielleicht allegorisch ein paar Probleme mit der Demokratie in jenen Regionen jenseits vom Mare Mediterraneum, des ›Weissen Meeres‹, wie es türkisch bzw. arabisch genannt wird, andeuten?

Sind wir nicht auch in der Situation jenes Zauberers – allzu bereit, in, wie wir es von uns aus bewerten, politisch pathogenen Lebenslagen unsere politischen Ingredienzien allerorten als wirksam anzubieten?

Ein Wandel – mutabor – wird von den Betroffenen dort unübersehbar eingefordert. Das unterstützen wir natürlich erst einmal. Sind wir aber auch geeignete Lehr(Zauber)meister dafür? Mit unserem zumal deutschen ›Tunnelblick‹ auf die historische Singularität einer sog. ›friedlichen Revolution‹?

Denn: Das Problem mit einer morgenländischen Demokratie wird hier nicht das von allen Seiten geforderte Mitbestimmen sein. Das wird sich organisieren lassen, es gibt auch in jenen Regionen schon immer Parteien, Verbände oder andere Assoziationen, die Interessen partieller Gruppen artikulieren könnten. Allerdings: schon das Akzeptieren von Mehrheiten wird doch immer wieder temperamentvoll in Frage gestellt (›Wahlbetrug‹ ist hier der wechselseitig billigste Vorwurf). Das aber ist nicht so sehr ein Zeichen politischer ›Unterentwicklung‹ oder ›Infantilität‹, sondern entspringt aus der natürlichen Souveränität, Ehrbarkeit und Traditionswahrung der je eigenen Lebensform als Gruppe, als Clan, als Familie etc., die sich nicht relativieren und verfügbar machen lässt.

Das verweist auf ein zentrales, sozusagen spirituelles Problem, das man nicht – empirisch – mit trial and error bewältigen kann: auf das Problem Gemeinschaft versus Gesellschaft. Denn nur in einem der beiden gründen Bedingungen der Möglichkeit einer nachhaltig demokratischen Lebensform – in Gesellschaft. – Nun ist es aber eine massenhaft orientalische Lebenserfahrung, die sich in einem Satz (aus der empiristischen Tradition des Empire) so zusammenfasst: There is no such thing as society. Und der ›Ersatz‹ dafür ist eben die alle Tribalismen umgreifende normative Kraft der Religion des Islam, der sich existentiell als politische Religion definieren muss! Der Islam kann nicht – anders als christliche Glaubensbekenntnisse – ›Privatsache‹ werden, oder er hört auf.

Ministerielle oder feuilletonistische Bekundungen wie, Demokratie und Islam sind keine Gegensätze, die von Deutschland aus in jenen Aufruhr hineingesprochen werden, sind gut gemeint, auch eskalationsminimierend aber gedankenlos. – Zum Weiterlesen sei Brian Whitakers What's Really Wrong With The Middle East (Saqi Books London 2010) empfohlen.

 

Steffen Dietzsch