… neulich vor dem Einstein
war jemand neugierig auf eine neue Rede zum alljährlichen Holocaustgedenktag. Es käme hier, so das frische Interesse, zum ersten Mal ›die Jugend‹ zu Wort, um das Gedenken an die Shoa – nach dem Ende der Zeitzeugenschaft – weiterzutragen. Die junge Referentin begann – durch ihre Begrüßungsformel – vielversprechend mit der Betonung des Allgemeinmenschlichen als demjenigen, das der deutsche Nationalsozialismus aus der Welt zu tilgen versucht habe.
Dann aber kam ein Zungenschlag, der Tags darauf (Die Welt, S.4) als eine Wendung identifiziert wurde, »die im Reichstagsgebäude seit unseligen Zeiten nicht mehr gehört worden ist«: Volksgemeinschaft als Schicksalsgemeinschaft … Und die sei im jüdischen Selbstverständnis kein selbst gewähltes Schicksal, sondern sie – ausgewählt als ›Volk Gottes‹ – eben ihre spezielle Lebensform. – Dieser allgemeine Hinweis auf Gemeinschaft ist nicht unproblematisch, denn damit wird ein vorpolitischer, allgemeiner Grund reklamierbar für unbestimmt politisch-beliebige (auch natürlich gute) Zwecke. Die empirisch nicht festlegbare Reichweite von ›Gemeinschaft‹ lässt sie anfällig werden für politische ›Auto-idolâtrie‹ (Nietzsche), die durch sie selber nicht durchschaut werden kann. Ihre Widerständigkeit gegen geistigen und gesellschaftlichen Wandel beziehen sie aus mythischer und moralischer Selbstermächtigung. Natürlich beanspruchen ›Gemeinschaften‹ trotzdem bis heute ihren Platz im ausdifferenziert-geselligen Leben von Völkern, und zwar in unterschiedlichsten Erscheinungsformen. Aber sie bilden auch, wenn sie sich als Nationen, Staaten, Clans, Partisanen darstellen, kurz: jeweils als Vereinigung von Souveränen, den Glutkern immerwährender, friedlich unlösbarer Auseinandersetzungen. Das macht auch die, von ›außen‹ betrachtet, radikale, alle Urteilskraft beschämende Dynamik jedes Nationalismus aus (– ach, hätte man der jungen Mahnerin doch mal Einblick in den Briefwechsel zwischen Schalom Ben-Chorin und Hans-Joachim Schoeps 1934-1974 gewährt, oder in Oscar Levy’s »Offenen Brief« an Hitler von 1938).
Man hatte auch bereits in der modernen Soziologie und Philosophie (seit Ferdinand Tönnies und Helmuth Plessner) über Differenzierungen hinsichtlich des Begriffs von Gemeinschaft und deren Grenzen nachgedacht. Der neue Zusammenhalt zwischen Menschen, den man dann – neuzeitlich – als Gesellschaft zu beschreiben versucht hatte, blieb praktisch-politisch zu abstrakt. Er wäre auch der Gemeinschaft gegenüber, gar nicht im Bild eines (womöglich noch geografisch besetzbaren) Raums anschaulich zu machen. Gesellschaft blieb lange Das Rätsel der Gesellschaft (so der resignative Titel von Max Adlers letztem Buch – 1936!). Im Gegensatz zu Gemeinschaft als einem ›natürlichen‹ Menschenverbund, schien sich bei Gesellschaft ein – nicht-sinnlicher – Zusammenhang von ›Nächsten‹ und ›Fremden‹ zunächst nicht konzeptualisieren zu lassen.
Denn: der Raum, den Menschen sozusagen gemeinschaftsförmig entwerfen – als Familie, Stamm, Kirche, Volk, Nation – ist (von ihnen selber) klar umgrenzt und muss behauptet werden. Nur er gestattet ein jeweils ›identitätspolitisch‹ definiertes Verhalten untereinander, sichert den religiösen und sozialen Alltag und bestimmt die Kommunikation – intern und gegenüber anderen Gemeinschaften. Das war im politisch-historischen Alltag mit Aufstieg und Ende der europäischen Imperien und deren Kampf um nationalen und ›volklichen‹ Zusammenhang verbunden (und endete in der europäischen Katastrophe der Weltkriege).
Im Modus der Gesellschaft, also mit abstrakter Sinnlichkeit (im Unterschied zur konkreten Sinnlichkeit in der Gemeinschaft) bleibt der Mensch gewissermaßen nach allen Seiten offen und sichtbar; das ist die Öffentlichkeit des Citoyen du Monde, der seinen Gemeinschaftsalltag zu marginalisieren weiß.