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Das Einstein in der Kurfürstenstraße war das schönste und legendärste Caféhaus Wiener Prägung in Berlin. Man fand dort die tägliche Weltpresse ebenso wie Leute ›von Welt‹ (oder solche, die sich dafür halten): ›Monde‹ & ›Demi-Monde‹ reichlich, glücklich vereint. Dort auch sitzt der Flaneur, trifft sich mit Leuten, mit denen er beruflich zu tun hat, liest Zeitung, sieht schönen Frauen nach, unterhält sich über Ausstellungen, Theater etc. Die Kolumne des Berliner Philosophen Steffen Dietzsch, Bannkreis, versammelt – in loser Folge – die Resultate seines Flanierens: kleine Glossen, Artikel zur Sache. 

 

… neulich im Einstein

las ich von einer Initiative deutschsprachiger Literaturinstitute, die im Vorfeld der Leipziger Buchmesse um die Vielfalt in einer offenen Gesellschaft warb. In einem ›Offenen Brief‹ [ND, 10/11.3.18, S.9] war da über die Achtung der Meinungs-Vielfalt zu lesen, es sei fatal anzunehmen, dass sich rechte Positionen erübrigen, wenn man ihnen auf der Buchmesse mit Argumenten begegnet. Diesen anderen Meinungen sei der Raum zuzuweisen, den sie verdienen: außerhalb des demokratischen Meinungsspektrums, außerhalb von dem, was zur Diskussion steht. – Also soll Vielfalt durch eine qualifizierte Vielfalt gewährt bleiben. Hat da einer aus dem Archiv der Bezirksleitung der SED eine alte Messedirektive für den Umgang mit Westverlagen ›abgekupfert‹?

Gilt also Meinungsfreiheit – seit dem First Amendment to the United States Constitution [1791] unverhandelbare Dialogform demokratischer Staatswesen – ab jetzt nicht mehr für alle Meinungen? Also nicht mehr? – Schon das zu fragen, gilt wahrscheinlich neuerdings als Self-Outsourcing … Damit wäre wohl für die gute Meinung – und ihre Trägerin – die Legitimation gegeben für den robusten Umgang mit diesen ›Meinungen‹; auf der Buchmesse in Frankfurt konnte man schon einen ersten Eindruck vom neuen Umgang mit anderen Meinungen, Zeitschriften oder Büchern bekommen. Aber, wir müssen wohl bemerken, – nicht: Mut haben zum selber denken,  sondern: das-musst-du-politisch-sehen  –  das ist der kollektivistische Imperativ in unserer neuen deutschen demokratischen Massenkultur …

Der Weg zur Gemeinschaft der Gleichen-guten-Meinung-für-Alle fängt eben – wie 1914, 1933, 1945, 1968 – auch heute wieder mit vormundschaftlichen Reinheits-und Wer-wen?-Ritualen an. Da wird ein Gedicht von der Hauswand einer Hochschule abgekratzt, da werden Bücherstände auf Buchmessen verwüstet, Studierende toben, wenn ihnen Dichter & Denker als Lektüre zugemutet werden, die noch in ›alter‹ deutscher Standardsprache gedruckt sind … Lehrende müssen sich dem Tribunal von Studierenden stellen, um wissenschaftliche Sachverhalte, aber auch Sarkasmus, Witz, schwarzen Humor, ›politisch-inkorrekte‹ Darstellungen, etc. zu rechtfertigen. – Kurzum:  Weil wieder, gerade auch in demokratischen Gemeinwesen, die – politische, religiöse, erzieherische, kulinarische oder weltanschauliche – Meinung anderer öffentlich (auf der Strasse, dem Campus) und veröffentlicht (in Medien und [a]sozialen Netzwerken) niedergeschrien, tribunalisiert und aus der Welt gebracht werden soll. Das was früher als vertikale Repression des Denkens (›von oben nach unten‹) praktiziert wurde, verlagert sich heute sozusagen in die Horizontale: meine Denk- und Sprechgewohnheiten, meine Lektüre, meine Lehre und meine Recherchen werden zunehmend von meinen Nachbarn, Kollegen, Hörern, Bekannten, Mitreisenden etc. zensiert, korrigiert und zurechtgewiesen. Es kann passieren, dass wissenschaftliche Erkenntnisse nicht publiziert werden können, weil in einem Entscheidungsgremium (Redaktion, etc.) eine parallele Gesinnungsprüfung zufällig zu Ungunsten des Autors ausfällt. – Ach Gott, Voltaire – du wolltest dein-Leben-geben für die Publizität von Meinungen, gerade dann, wenn du nicht mit ihnen übereinstimmst …

Es wäre also wieder in Erinnerung zu rufen, dass bedingungslos immer zuallererst der Mensch als Person, als Individuum, als Subjekt zum obersten Selbstzweck, niemals als Mittel zu setzen wäre. Warum? – Weil dessen Freiheit auf eigene Meinung und freien Umgang mit dieser Meinung eine ganz andere Form des Zusammenlebens in der Polis zur Folge haben wird. Damit wird das bisherige Leben in traditionellen Gemeinschaften verändert. Es ist dies eine Veränderung im Wahrnehmen von der Person seiner selber und der Anderen als Gleiche vor dem Horizont des gleichen Rechts.

Steffen Dietzsch