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Das Einstein in der Kurfürstenstraße war das schönste und legendärste Caféhaus Wiener Prägung in Berlin. Man fand dort die tägliche Weltpresse ebenso wie Leute ›von Welt‹ (oder solche, die sich dafür halten): ›Monde‹ & ›Demi-Monde‹ reichlich, glücklich vereint. Dort auch sitzt der Flaneur, trifft sich mit Leuten, mit denen er beruflich zu tun hat, liest Zeitung, sieht schönen Frauen nach, unterhält sich über Ausstellungen, Theater etc. Die Kolumne des Berliner Philosophen Steffen Dietzsch, Bannkreis, versammelt – in loser Folge – die Resultate seines Flanierens: kleine Glossen, Artikel zur Sache. 

 

… neulich im Einstein

konnte man wieder einmal nur staunen, wie leichtfertig die freie Presse heute mit dem Status des Menschen operiert; unversehens und frenetisch wird all denen ihr Gattungsmerkmal abgesprochen – lächerlich gemacht, hämisch, pathologisiert –, die nicht den alten Werten in alter Weise (des ›Westens‹) verbunden scheinen.

Nein, die Rede ist nicht von der totalen Tribunalisierung der gegenwärtigen US-authorities. Vielmehr wurde das neulich erschreckend deutlich an einer anthropologischen Identifizierung der in der Ostukraine kämpfenden Separatisten. – Ein junger ukrainischer Historiker (Andriy V. Portnov) urteilte (zit. in FAZ, 18.2.17), man müsse seine russischsprachigen Landsleute im Osten als sowjetisiert und dadurch anthropologisch verdorben ansehen. Sind das die neuen (importierten) wissenschaftlich-kulturellen Standards ukrainischer Geistigkeit? – Nun, das wird die (moskowitischen) Sowjetisten dort nicht ganz überraschen: das kennen sie seit über fünfundsiebzig Jahren aus den lebhaftesten Begegnungen mit jenen anthropologisch Unverdorbenen, die aus ›dem Westen‹ zu ihnen kamen, um ihnen ihre Fressen zu polieren und ihr Fressen nach Hause zu transportieren.

Wenn wir diese anthropologisch Verdorbenen dort weiterhin (aus vielleicht guten Gründen) als Feinde betrachten, so sollte uns der politische Begriff des Feindes aber klar werden lassen, dass er immer bloß temporär ein Feind ist. Und das er in diesem Modus natürlich sein Gattungsmerkmal, ein Mensch zu sein, nicht verliert.

Es sollte doch historisches Wissen sein, dass es eine elementare Differenz zwischen Krieg (griech. polemos) und Bürgerkrieg (griech. stasis) gibt? Und dass das lange zivilisatorisch auseinanderzuhalten (und so beherrschbar) schien? – Wollen wir wirklich geistig daran mitwirken, diese Differenz aus dem kulturellen Gedächtnis verschwinden zu lassen? – Wir sehen doch mit Erschrecken: Im modernen Umgang mit dem Feind (im Krieg) verliert dieser in jedem Bürgerkrieg seinen Staus als ›Mensch‹, – wird zum Unmensch, zum Untermenschen.

Was aber heisst das publikationshygienisch? Es scheint nicht so sehr die soziable Lüge zu sein, die unseren Umgang mit unseresgleichen belastet (denn der Lügner weiß ja um die Differenz seiner Rede zur Sache!), sondern der schwer behebbare Mangel an Urteils- und Denkkraft, also Einbildungen, Überzeugungen, Vorurteile, Bullshit machen es uns gerade im Konflikt so unmöglich, im Menschen den Menschen zu sehen.