Aufnahme: ©rs

Das Einstein in der Kurfürstenstraße war das schönste und legendärste Caféhaus Wiener Prägung in Berlin. Man fand dort die tägliche Weltpresse ebenso wie Leute ›von Welt‹ (oder solche, die sich dafür halten): ›Monde‹ & ›Demi-Monde‹ reichlich, glücklich vereint. Dort auch sitzt der Flaneur, trifft sich mit Leuten, mit denen er beruflich zu tun hat, liest Zeitung, sieht schönen Frauen nach, unterhält sich über Ausstellungen, Theater etc. Die Kolumne des Berliner Philosophen Steffen Dietzsch, Bannkreis, versammelt – in loser Folge – die Resultate seines Flanierens: kleine Glossen, Artikel zur Sache. 

 

… neulich im Einstein

quälten wir uns mit der Frage, warum wir uns denn als ›Europäer‹ bestimmen wollten? … ein Freund alberte: Brexiteer zu sein, das ist nicht schwer, Europäer zu werden dagegen sehr … Also: wir sind es natürlich nicht im geographisch trivialen Sinne … weil wir eben in Europa leben. Und so gehört natürlich (auch nach dem 24. 6.) das United Kingdom weiter zu Europa.

Dass wegen Englands (politischer) Trennung von der ›Europäischen Union‹ jetzt Europa-Skepsis und -Fremdheit hörbar wird, muss mit anderen als nur empirisch-politischen (Brüsseler) Anmutungen an den Begriff und den Umgang in ›Europa‹ zu tun haben. Offensichtlich meint ›Europäer‹ zu sein, qualitativ etwas anderes; – etwas Bestimmteres, als nur die äußerliche, numerische Zugehörigkeit zu einem der gegenwärtig in Europa vorfindlichen Pakte oder Staatenbünde (diese so oder so zu organisieren und sie mit ›EU-Etiketten‹ anzubieten, kann noch kein zureichender Grund sein, als ›Europäer‹ zu gelten).

Wenn wir uns aber künftig als ›Europäer‹ begreifen und gestalten wollten, müssten wir vermutlich erstens eine Wende in unserer Urteilskraft versuchen: weg von milieutheoretischen Experimenten mit diesen oder jenen geopolitischen Lagen; also zunächst weg von den ›Objekten‹ und vielmehr hin zu den Subjekten, also hin zu den Konstruktions- und Operativkräften bei denen, die dann ›Europa‹ entwerfen könnten. Dieser philosophische Neubeginn würde zuallererst zu einem erweiterten, prismatischen Blick auf den Menschen führen müssen. Um schließlich eine neue Sicht auf solche Dispositionen in uns Menschen zu erlangen, die als Gründe für unsere Soziabilität und ihre Grenzen gelten könnten.

Das hieße zweitens,Europa … kein Problem politischer Legislaturperioden wir würden einen neuen Sinn, ein neues Empfinden für so etwas wie ›abstrakte Sinnlichkeit‹ entwickeln; – wozu? Um unser Selbst e- und Fremdwahrnehmung sozusagen zu erweitern. D.h., um z.B. im ›Anderen‹ einen Anderen und zugleich Sich-Selbst identifizieren zu können. Wiederum nicht bloß numerisch – da sind die vielen anderen und hier bin ich – sondern sich selber als zugleich auch als einen anderen begreifen zu können. – Ohne Umschweife gesagt heißt das für ›Europa‹: dessen Gelingen ist gebunden an eine neue kulturelle Praxis der Handhabung von tief Widersprüchlichem, ja von Paradoxem! Wenn das stimmt, können wir eines Tages auch wieder auf die Briten hoffen!

Das aber ist das Gegenteil einer Sicht auf uns Menschen, die nur ein Eines (Identisches) an uns sucht, das es zu freizulegen gelte. – Jenes Eine, das heute im Anti-Europa-Affekt wieder entdeckt wird, ist prominent das Nationale (auch das Konfessionelle, Rassische oder ›Gendereske‹), das es uns erlauben möge sich und die anderen zu unterscheiden. – Als ›europäische‹ Denkoperation aber wäre demgegenüber darauf zu beharren, diesen Identifizierungsvorgang eben auch reziprok zu praktizieren. Und dann bemerkt man plötzlich das bisher unerkannt Dritte in diesen Kalkulationen: nämlich nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau (Galater 3.28), sondern: den Menschen überhaupt! Und zwar nicht als fluide ›Abstraktion‹, sondern als etwas, das so wirklich ist wie die Zahl beim Rechnen (und wie diese kann er reell, imaginär, rational, ganz, natürlich oder kardinal sein …).

Also: man kann natürlich europäische Staaten, um wieder ins Historisch-Konkrete zu kommen, in Wirtschafts- und Sicherheitsverbände einfügen (oder sie auch wieder entlassen), – aber ohne eine spirituelle (menschenkundliche) Disposition derer, die das bewerkstelligen sollen, wird sich ein auch politischer Weg heraus aus dem Nationalen nicht finden lassen. – Und wenn man die europäischen Kulturen nach solchen transnationalen Gedankenexperimenten absucht, wird man – zumal im Süden – häufiger fündig als man zunächst glaubt. Das hat von allem Anfang an zu tun mit einer nachhaltigen Praxis der Christenheit, nämlich das mit der Ankunft des Menschensohns (Matt. 24.39) jeglicher nationaler oder sozialer Alltagsmodus im Menschen von der Gestalt des Menschen, an-sich-selbst-betrachtet fundamentiert ist.

Darin finden wir nun gerade als Deutsche eine uns spezifisch zumutbare Aufgabe, eine, so würde ich das nennen, deutsche Konfession im europäischen Horizont, die, am Anfang unserer Moderne, in den Worten von Novalis (im Brief an August Wilhelm Schlegel, vom 30. Nov. 1797) so klingt: »Deutschheit ist Kosmopolitismus mit der kräftigsten Individualitaet gemischt«, oder, hundertdreißig Jahre später, bei Karl Wolfskehl, als er von unserer deutschen Eigenart schrieb, dass ›wir wieder und wieder fremdes Seelengut zu dem unsern zu machen, [in] uns einzuschmelzen‹ geneigt seien.

Kurzum: Europa konstruieren – d.h. dem Menschen einen Transzendenzgang abzuverlangen.

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