Die durch Corona erzwungene Pause der Klima-Proteste und -Aufgeregtheit bietet die Chance, rationaler über das Thema zu reden. Und es ins Verhältnis zu anderen zentralen globalen Fragen zu rücken.
Gastbeitrag von Ludwig Greven
Nach dieser Pandemie, so ein gerne verwendetes Topos, wird nichts mehr so sein, wie es vorher war. Abgesehen davon, dass viele Menschen genau darauf hoffen, gilt es auch in anderer Hinsicht als der gemeinten. Denn konnte man bis zum Ausbruch des Virus zumindest in den veröffentlichten Meinungen in den klassischen und neuen Medien hierzulande den Eindruck gewinnen, dass es nichts Wichtigeres gebe als das Verhindern einer angeblich unmittelbar bevorstehenden Klimakatastrophe, hat die globale Gesundheitskrise die Wertigkeiten drastisch verschoben. Für die gesamte Menschheit ging und geht es jetzt tatsächlich um das unmittelbare Überleben, um ihre wirtschaftliche und soziale Existenz, um eine nicht zu leugnende reale Bedrohung. Und um ihre Freiheiten. Anderes rückt da erst einmal in den Hintergrund.
Das mögen diejenigen, die sich verdienstvollerweise für Natur- und Klimaschutz engagieren, bedauern. Doch Corona hat, jedenfalls für die, die es sehen wollen, auch die Erkenntnis befördert, dass die Natur keineswegs ›unser Freund‹ ist. Sie birgt schon immer, auch ohne dass der Mensch ihr auf den Leib rückt, immense Gefahren – durch kaum beherrschbare Naturkatastrophen oder eben Viren. Die Vorstellung, mit ihr ›im Einklang‹ leben zu können, wenn man seinen Lebenswandel nur entsprechend ändert, ist genauso illusionär und von Hybris geprägt wie umgekehrt, ihrer Herr werden zu können. Wir alle als Gattung Mensch und unsere Körper werden vielmehr lernen müssen, mit diesem Virus wie mit Millionen anderen gefährlichen Erregern aus der ›wilden‹ Tierwelt zu leben und unser Leben darauf einzustellen. Auch gegen die Natur.
Das gilt genauso für den Klimawandel. Das Klima auf unserem Planeten hat sich in der Erdgeschichte immer wieder drastisch geändert. Es gab Warm-, Heiß-, Kalt- und Eiszeiten. Neu ist lediglich, dass die Menschheit seit Beginn der Industrialisierung gehörig dazu beiträgt, die Atmosphäre in gefährlicher Weise aufzuheizen. Aber selbst wenn das durch verstärkte globale Bemühungen in absehbarer Zeit eingedämmt oder gestoppt werden könnte, wären gravierende Folgen nicht mehr zu verhindern. Also werden wir als Menschen uns auch daran anpassen und lernen müssen, damit fertig zu werden.
Es ist ein naiver Traum, dass die Mehrheit der Menschen im reichen Norden unseres Globus bereit wäre, auf die mit Wohlstand und technischer wie wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung verbundenen Annehmlichkeiten zu verzichten, um die Welt zu ›retten‹. Frei reisen und sich bewegen zu können, auch in die Ferne – das machen die Corona-Beschränkungen schmerzhaft bewusst – ist beispielsweise ein gewaltiger, hart erkämpfter Fortschritt, den die Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten (noch) nicht genießt, und den auch die Mehrzahl der Menschen hierzulande nicht grundsätzlich aufzugeben bereit ist. Klimaschützer eingeschlossen. Erst recht gilt das für elementare Bedürfnisse wie genug zu essen zu haben, und essen und konsumieren zu können was und wie man möchte.
Umwelt- und Klimaschutz sind unbestreitbar wichtig. Aber er ist, zugespitzt, ein Luxus, den man sich erst einmal leisten können muss. Milliarden Menschen haben nichts oder wenig zu essen, keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, keine oder zu wenig Energie und Strom, keine Arbeit, von der sie sich und ihre Familien ernähren können. Sie leben in Unterdrückung, Unfreiheit, in Kriegen und ethnischen oder sonstigen Konflikten. Wohlstand und Freiheit, wie wir sie im Norden und in den westlichen Ländern genießen dürfen, sind für sie Träume, die sie sich ersehnen. Entwicklung und Wachstum sind für sie kein Schrecknis, sondern Hoffnung. Hoffnung auf ein besseres Leben. Das Alles nimmt nicht die Dringlichkeit, sich um Klimaschutz zu kümmern. Aber es relativiert seine Bedeutung für den überwiegenden Teil der Menschheit, genauso wie die Pandemie.
Noch eins kann man aus ihr lernen. Natürlich ist es wichtig, dass jeder – vorübergehend – sein Leben umstellt, um andere zu schützen. Aber dadurch allein ist der globalen Gefahr nicht Herr zu werden. Nur wenn die staatlichen Gemeinschaften und die Staatengemeinschaft grundlegende Strukturen verändern, etwa mehr in die Gesundheitsversorgung und Vorsorge investieren, und wenn Wissenschaft, Forschung und Technik größte Anstrengungen unternehmen, kann das Virus gestoppt werden. Der Einzelne kann das nicht, weder mit Maske tragen gegen die Pandemie noch mit Auto- oder Fleischverzicht gegen den Klimawandel.
Gegen die Ausbreitung des Coronavirus haben die Regierungen zahlreicher Länder seit einem Jahr Grundrechte in nie gekanntem Maße ausgesetzt, die Bewegungs- und Gewerbefreiheit stark beschnitten und selbst das Demonstrationsrecht eingeschränkt. Die große Mehrheit der Bürger bei uns ist damit unverändert einverstanden, sie akzeptieren die verhängten Restriktionen, auch wenn nicht alle sie immer befolgen. Nicht wenige wären sogar für härtere Maßnahmen. Denn sie haben begriffen: Nur wenn sich alle einschränken, gibt es die Chance, Menschenleben zu schützen, die Pandemie zu überwinden und wieder zu einem freien Leben zurückzukehren.
Aktivisten und Politiker wie der Grünen-Co-Vorsitzende Robert Habeck fragen jetzt: Sollte man das alles nicht auch gegen die ungleich größere Gefahr der Klimaüberhitzung einsetzen? Kann man nicht auch da von den Menschen Einsicht verlangen, dass sie ihren bisherigen Lebenswandel in den reichen Ländern stark einschränken, um das Überleben der Menschheit zu sichern? Und wenn sie das nicht freiwillig tun: Sollte der Staat sie nicht dazu zwingen, durch Ge- und Verbote, von Flugreisen, Fleischverzehr, SUVs und vielem mehr? Vor allem aus den Reihen der Klimaschützer und von Fridays for Future kamen schon vorher solche Forderungen. Durch die Erfahrungen der Corona-Krise fühlen sie sich ermuntert.
Doch es wäre ein gefährlicher Irrweg. Die Pandemie ist eine sehr konkrete globale Gefahr. Die Menschen haben gleich zu Beginn Bilder gesehen, wie in Bergamo und andernorts Tausende qualvoll und einsam starben. Das war ein Schock, der sich tief eingebrannt hat. Dennoch mussten die Regierungen seitdem immer wieder um Vertrauen in ihre Gegenmaßnahmen werben, mit begrenztem Erfolg. Ihre wesentlichen Argumente waren und sind, dass es anders nicht geht und dass die Freiheitsbeschränkungen eine absolute Ausnahmen sind und sie, sobald es verantwortbar ist, wieder aufgehoben werden.
Der Klimawandel ist dagegen ein schleichender, wesentlich komplexerer Prozess. Die Folgen sind in unseren Breitengraden bislang weit weniger sichtbar als die Toten und bleibend Erkrankten durch das Coronavirus oder sterbende Wälder als Folge des Sauren Regens in den 1980er Jahren. Und auch wenn es keinen ernsthaften Zweifel geben kann, dass er menschengemacht ist, gibt es anders als bei der Pandemie nicht eine einzige, klar auszumachende Ursache und wenige effektive Gegenmaßnahmen wie Kontaktbeschränkungen und Impfungen gegen das Virus. Sicher kann jeder seinen kleinen Beitrag leisten, damit sich die Erdatmosphäre nicht überhitzt, indem er oder sie weniger Auto fährt, weniger oder nicht mehr fliegt, weniger oder kein Fleisch ist, undundund. Aber selbst wenn sich viele oder alle in Deutschland daran hielten, wäre gegen die weltweite Zunahme des CO2-Ausstoßes wenig erreicht.
Vor allem jedoch: Der Kampf gegen die Pandemie ist bereits ein Marathonlauf. Er zermürbt viele, hat Zahllose um ihre wirtschaftliche Existenz gebracht und in Verzweiflung und Einsamkeit gestürzt. Der Kampf gegen den Klimawandel hingegen ist eine Jahrhundertaufgabe. Er gleicht, wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gesagt hat, der Reise zum Mond. Und wie diese erfordert er neben grundlegenden Änderungen der Produktionsweisen, des Welthandels, des Verkehrs, des Städtebaus, unserer Konsumgewohnheiten und unseres Lebensstils neue, umweltverträgliche Technologien. Für sie ist noch weit mehr Forscher- und Erfindergeist nötig als bei den Impfstoffen. Und Mut und Bereitschaft zu einem langfristigen Wandel unserer Gesellschaft.
Das wird jedoch nur funktionieren, wenn eine breite Mehrheit überzeugt wird, diesen Weg einzuschlagen. Ohne und gegen sie wird es nicht gehen. Das würde nur, in wesentlich größerem Umfang als bei den Corona-Leugnern, Widerstand und Protest hervorrufen. Denn es verlangt von jeder, jedem, ihr und sein Leben umzukrempeln, nicht nur für einige Monate, ein Jahr oder mehr, sondern für immer. Bei den Corona-Maßnahmen hat man gesehen, wie schwer das vielen fällt, und dass Verstöße im Privatbereich kaum zu kontrollieren sind. Wie sollte, wie könnten Politik und Staat das bei oktroyierten breitflächigen Klimaschutzmaßnahmen bewerkstelligen, ohne eine Art Ökodiktatur zu errichten, wenn Bürger nicht mitziehen?
Demokratische Gesellschaften leben immer im Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit. Die Bürger erwarten zurecht, dass ihnen der Staat möglichst große Freiheiten garantiert, aber sie erwarten zugleich Schutz vor Gefahren für ihr Leben und ihre Gesundheit, ihre soziale und wirtschaftliche Existenz und eben diese Freiheiten. Auflösen lässt sich dieser Widerspruch nur, wenn die Menschen – soweit es ihnen möglich ist – selbst Verantwortung übernehmen, als freie, mündige Bürger und Mitglieder der staatlichen, europäischen und internationalen Gemeinschaft. Nur in existenzbedrohenden Ausnahmefällen wie einer Pandemie, einem Krieg oder Terrorangriffen darf ein liberaler Staat Sicherheit an oberste Stelle setzen und die Freiheitsrechte vorübergehend beschränken. Eine Lehre nicht zuletzt aus der Zeit des Nationalsozialismus und der SED-Diktatur.
Klimaaktivisten, Initiativen, Wissenschaftler und Politiker müssen deshalb die Bürger gewinnen mit Argumenten und Anreizen, sie dürfen sie nicht gängeln. Das ist alle Anstrengungen wert. Beim Ausstieg aus der Atomenergie hat es Jahrzehnte gedauert und es bedurfte der Katastrophe in Fukushima, bis aus dem Protest einiger weniger eine Volksbewegung wurde und das Ziel im nächsten Jahr erreicht wird. Beim Klimawandel haben wir diese Zeit nicht. Aber die Eile darf nicht zu einem scheinbar einfachen, obrigkeitlichen Weg verleiten. Fridays for Future hat gezeigt, wie aus dem Protest eines einzelnen Mädchens eine globale Bewegung gewachsen ist, die Mut und Kraft gibt und die nach der Pandemie sicherlich neuen Schwung erhalten wird. Denn viele haben gelernt, dass durch letztlich freiwillige Einschränkungen jeder seinen Beitrag leisten und Gutes bewirken kann. Setzen wir also auf die Einsichtsfähigkeit der Menschen, ihre Verantwortungsbereitschaft und ihren guten Willen. Corona kann dafür ein Vorbild sein. Nicht mehr, nicht weniger.