Ernst Eichengrün - Aufnahme: ©EE
Ernst Eichengrün
Notizen zur deutschen Politik

 

Ernst Eichengrün, geb. 1934, war 1967-69 Bundessekretär der Jusos, von 1972 bis 1991 Leiter der Abteilung Politische Bildung im Gesamtdeutschen Institut, von 1982 bis 1991 dessen Vizepräsident.

Denn selbst wenn die Koalition sich noch einmal aufrappelt, wären anderthalb Jahre gutes Arbeiten keineswegs garantiert.

Das hängt davon ab:

  • ob die SPD ihre Geschlossenheit bewahren kann;

  • ob genügend Wähler ihr den neuen Aufbruch auch abnehmen oder ob es sich um ein auf die SPD begrenztes Strohfeuer, eine pure Auto-Suggestion handelt. Von nachhaltigem Erfolg kann die neue Führung nur dann sprechen, wenn sie mindestens 25% erreicht. Ein Abwenden weiteren Absturzes reicht nicht aus;

  • ob sie eine seriöse Finanzierbarkeit ihrer Vorhaben aufzeigt (gerade, weil Walter-Borjans mit dem Angriff auf die Schwarze Null unauffällig eine Bresche in den Deich der wesentlich wichtigeren Schuldenbremse des GG schlagen wollte);

  • ob sich die SPD von der unterschwelligen Vorstellung löst, wir lebten auf einer Insel, könnten isoliert von der Welt munter vor uns hinträumen und die von dieser Welt bedingten Beschränkungen unserer Handlungsfähigkeit weitgehend ignorieren…

Sorry, leider etwas länger geworden. Nicht, weil ich mir etwa was von der Seele schreiben müsste, sondern weil mir der Blick in die Vergangenheit notwendig erscheint. Denn nur, wenn daraus in der SPD Lehren gezogen werden, kann sich etwas grundlegend ändern.

Die aktuelle Unklarheit

Noch ist offen, wie es weitergeht – mit der SPD, mit der Koalition, vor allem aber beim Wähler.

Denn selbst wenn die Koalition sich noch einmal aufrappelt, wären anderthalb Jahre gutes Arbeiten keineswegs garantiert.

Das hängt davon ab:

  • ob die SPD ihre Geschlossenheit bewahren kann;

  • ob genügend Wähler ihr den neuen Aufbruch auch abnehmen oder ob es sich um ein auf die SPD begrenztes Strohfeuer, eine pure Auto-Suggestion handelt. Von nachhaltigem Erfolg kann die neue Führung nur dann sprechen, wenn sie mindestens 25% erreicht. Ein Abwenden weiteren Absturzes reicht nicht aus;

  • ob sie eine seriöse Finanzierbarkeit ihrer Vorhaben aufzeigt (gerade, weil Walter-Borjans mit dem Angriff auf die Schwarze Null unauffällig eine Bresche in den Deich der wesentlich wichtigeren Schuldenbremse des GG schlagen wollte);

  • ob sich die SPD von der unterschwelligen Vorstellung löst, wir lebten auf einer Insel, könnten isoliert von der Welt munter vor uns hinträumen und die von dieser Welt bedingten Beschränkungen unserer Handlungsfähigkeit weitgehend ignorieren;

  • wie die SPD mit der Regierungsarbeit umgeht, ob die Forderung von Frau Esken, die Partei müsse sich von der Regierung abgrenzen, wieder mal auf ein Neben- bzw. sogar Gegeneinander hinausläuft;

  • wie die Wählerschaft den ›Linksruck‹ wahrnimmt: positiv oder negativ. Auch in den Medien ja umstritten. Noch! Denn die Leitmedien des Geistes – allen voran der SPIEGEL – bemängeln ja schon die fehlende Radikalität. Ob das den Wähler beeinflusst?

  • wie die Anhänger von Kühnert auf seinen taktischen Schwenk reagieren, bzw. ob er ohnehin nicht wieder auf die Pauke hauen muss). Der arme Junge hat einen schwierigen Balance-Akt zwischen Linksruck und Verantwortung vor sich, wenn er in vier Jahren Vorsitzender werden will.

Der Linksruck selbst

muss differenziert gesehen werden:

  • Einiges in der Sozialpolitik ist legitim, manches davon sogar mit der Union zu machen.

  • Anderes kann nicht kurzfristig erreicht werden; es wird als ›perspektivisches‹ Ziel bezeichnet, um das zu kaschieren. Der weniger aufmerksame Wähler könnte das bald als enttäuschend empfinden.

  • Manches ist jedoch problematisch. Auffallend: In der Sicherheitspolitik wurde nur wenig sichtbar, das jedoch zeigt in eine bedenkliche Richtung. Auch ein Zeichen dafür, dass es an weltpolitischem Verantwortungsbewusstsein fehlt.

Die Sünden der letzten Jahrzehnte

Über die Ursachen des Absturzes in den letzten zwei Jahren ist viel geschrieben worden. Doch die Ursachen der Misere liegen tiefer:

In jeder der drei Koalitionen stand die SPD vor einem fast unauflösbaren Dilemma: Einerseits das eigene Profil deutlich werden zu lassen, was nur durch die starke Betonung der Unterschiede geht, zum anderen aber zu vermeiden, durch eine zu massive Betonung des Angestrebten, aber nicht Erreichten die Regierung insgesamt als nicht handlungsfähig und sich selbst als inkonsequent oder zu schwach erscheinen zu lassen. Ein Koalitions-Kompromiss wurde zu oft zerredet, aber auch der Eindruck erweckt , das sei nun alles, was die SPD wolle.

Ein Balance-Akt, der kluges Austarieren erfordert. Die neue Führungsspitze muss da noch nachlernen.

Die Ursachen des Absturzes

Vom Wertewandel in Teilen der Wählerschaft, dem Anwachsen neuer Milieus, dem volatiler gewordenen Wahlverhalten, also der nachlassenden Parteien-Bindung, der gewachsenen Zahl der Parteien etc. mal ganz abgesehen, geht es bei der SPD um besondere Faktoren, die von alleine nicht verschwinden:

Hartz IV

Darauf wird gerne verwiesen. Sicher, für viele SPD-Anhänger war das ein Schock. Man hatte sich zu lange daran gewöhnt, mit dem Wort ›Reformen‹ etwas rein Positives zu verbinden. Gerhard Schröder hatte es versäumt, diese Aktion vorzubereiten, nämlich Partei und Öffentlichkeit nachdrücklich auf ihre Notwendigkeit hinzuweisen. (Er hatte diese Notwendigkeit selbst wohl auch erst spät eingesehen.) Deutschland war nicht ohne Grund zum ›kranken Mann Europas‹ geworden. Hartz IV war gewiss keine Kleinigkeit. (Auch ich hatte Bedenken, weil Arbeitslose, die länger gearbeitet und in die Rentenkasse eingezahlt hatten, zu schnell auf Hartz IV heruntergestuft werden sollten. Das musste viele erschrecken, die zwar noch Arbeit hatten, aber auch daran dachten, was wäre, wenn nicht.) Aber summa summarum war das allermeiste eben einfach notwendig. Manches ist ja auch schon korrigiert worden.

Doch erst die heftige innerparteiliche Kritik hat dann den Stellenwert des Themas für die Öffentlichkeit erhöht. Hinzu kommt die Frage, ob die Gewerkschaften gut daran taten, sich an die Spitze der Agitation zu stellen.

Doch Schröder wurde dafür keineswegs in dem Maße abgestraft, wie es der Fall gewesen wäre, wenn das Thema wirklich allein wahlentscheidend gewesen wäre. Er erhielt 2005 immerhin 33,7%, also nur 4% weniger als 2002. Das war dann die ganze Abstrafung durch den Wähler. Und wir müssen bedenken: Schon 2002 hatte die SPD keineswegs so glänzend abgeschnitten: Sie verdankte ihren Erfolg zu einem Teil dem Irak-Krieg, dem Oder-Hochwasser, der Prof.-Kirchhof-Linie der CDU und der fehlenden Attraktivität des Gegenkandidaten Stoiber. Sonst wäre die Sache u.U. ganz anders ausgegangen. Wir müssen zudem bedenken, dass der Wahlerfolg von 1998 keineswegs selbstverständlich war: Er war weitgehend der Unzufriedenheit mit der ausgehenden Ära Kohl zu verdanken. Aber auch einem überzeugenden Kanzler-Kandidaten sowie dem seit langem wirkenden Bemühen der SPD, auch die Mitte anzusprechen.

Erst 2009 ging es mit 22,7% deutlich abwärts. Vielleicht auch eine Frage der Zugkraft des Kandidaten und der gewachsenen Gewöhnung an Frau Merkel. 2013 ging es bei 25,4%, mit einem Kandidaten, der von der Partei nicht hinreichend unterstützt worden war, wieder leicht aufwärts. Die gerade knapp überwundene Banken-Krise mag da noch viele verängstigt haben. Da aber waren die Erfolge der Agenda schon da. Sie wurden in breiter Front aber nur deshalb nicht deutlich genug, weil es Merkel gelungen war, sie zu okkupieren und weil Teile der SPD immer noch dagegen ankämpften.

Wie soll der Wähler den Repräsentanten einer Partei trauen, wenn deren Mitglieder das nicht tun!

Die Distanz der SPD zur Agenda wurde ja immer wieder betont. Wie wäre es gewesen, wenn die SPD erklärt hätte: »Die Agenda war notwendig und richtig, die hat große Erfolge gebracht, so dass wir jetzt daran denken können, den weiteren Weg etwas abzuändern.« Stattdessen wirkte es immer so, als bereue sie diese Reform, traue sich aber nicht, das offen zu sagen. Sie hielt so dieses Thema immer wieder am Kochen.

Die Kernwähler

Nach wie vor wird so getan, als sei nur durch die Agenda die Stammwählerschaft vergrault worden. Dabei werden die bedeutsameren Faktoren vergessen, nämlich die personelle und inhaltliche Entfernung von den Kernwählern.

Das sind die Fachkräfte – vom Facharbeiter bis zum Ingenieur in Industrie und Handwerk sowie im Dienstleistungsbereich. Diese sind leistungs- und aufstiegsorientiert.Sie sind weitgehend immun gegen Moden und Ängste, die vom grünen Milieu gepflegt werden. Sie blickten lange zuversichtlich in die Zukunft. Die SPD stand lange für den technischen Fortschritt, nicht für diffuse Ängste. Optimismus war angesagt.

Doch sie erwarteten von der SPD auch die Berücksichtigung ihrer Interessen, z.B. wenn es um den ›Mittelstandsbauch‹ in der Einkommensteuer geht.

Mit zunehmender Vergrünung hat die SPD die breite Masse der Arbeitenden vernachlässigt. In der Partei und draußen. Es fing in den 70er Jahren in den Ortsvereinen an, in denen Akademiker mit Ideologie, soziologischen Fachausdrücken und radikalen Wunschträumen die Partei vielerorts dominierten und andere abschreckten.

Früher war es üblich, dass in den Städten Mitglieder der Betriebsräte der dort ansässigen größeren Firmen in den Vorständen und in den Stadtrats-Fraktionen saßen.

Long ago.

Wie sehr Teile der Partei sich manchmal vom Ziel, Wähler zu gewinnen, entfernt hatten, zeigt dieses Beispiel:

Als vor Jahren der sehr populäre Münchener OB Kronawitter zur Wiederwahl zu nominieren war, lehnte der UB-Parteitag das ab. Begründung: Er sei »der Partei nicht vermittelbar«. Die CSU gewann dann die Wahl.

Noch heute aber bewegen die Stammwähler vor allem ganz konkrete Fragen. Die Sorge eines abgehobenen Milieus um die work-life-balance ist für sie nicht das Top-Problem.

Das grüne Milieu, eine Parallel-Gesellschaft eigener Art, ist in den letzten Jahrzehnten auch in die SPD hineingewachsen. Ein Reservoir für den traditionellen linken Flügel.

Statt auf die Stammwähler konzentrierte sich die SPD auf Minderheiten. So wichtig deren Interessen auch sind, so kann eine Summe von Minderheiten doch keine Mehrheiten ergeben. Und manchmal ging diese Politik auch gegen die Interessen der arbeitenden Mehrheit. Wie soll ein Arbeiter es verstehen, wenn bei der Mindestrente, die er ja mitbezahlen muss, auf eine Bedürftigkeits-Püfung ganz verzichtet werden soll? Und wenn an dieser Frage dann auch noch die Koalition scheitern sollte?

Es geht aber auch um das Abrücken vom Ziel, Teile der Mitte zu gewinnen, also solche aus den Mittelschichten bis hin zu Unternehmern, die für Fortschritt, Wachstum und soziale Gerechtigkeit sind. Die aber wurden durch Ideologisierung abgeschreckt.

Mängel im Politik-Verständnis

Es gibt aber auch einige grundsätzliche Probleme, die den internen Konflikten schon länger zugrunde liegen:

  • Das Verständnis von der Rolle der Parteien in der Demokratie: Die SPD hat lange gebraucht, bis sie sich die Regierungsfähigkeit zum Ziel setzte, die natürlich die Mehrheitsfähigkeit voraussetzt.

  • Fehlende Einsicht in die Notwendigkeit von Kompromissen. Das teilt sie natürlich mit sehr vielen Bürgern.

  • Vor allem aber fehlt es an der Einsicht, dass Demokratie kein Mittel zum Zweck ist. Und der Wähler erst recht nicht. D.h., eine Partei darf die Demokratie und den Wähler nicht als Mittel zum Zweck der Durchsetzung ihrer Ideologie ansehen; sie muss sich vielmehr an den Wünschen und Bedürfnissen der von ihnen angezielten Wählergruppen orientieren, solange das nicht ihren eigenen Grundwerten widerspricht.

Dann noch die Sache mit den ›Visionen‹:

Der einzelne Mensch kann sich ruhig Modelle einer zukünftigen Gesellschaftsordnung ausdenken. Er darf sich Utopien hingeben – auch wenn sie ein Wolkenkuckucksheim darstellen und ihn bei völliger Realitäts-Verweigerung zum Sektierertum oder gar zum Totalitarismus verführen.

Aber eine Partei darf das nicht. Vor allem, wenn aus ihnen eine umfassende Ideologie wird oder sie gar von Anfang an auf einer solchen basieren. Sie würde intern ihre Bandbreite aufgeben und nach außen massiv an Zuspruch verlieren.

Was sie kann:

Sich programmatisch auf Grundwerte und Leitideen festlegen – und daraus langfristige Leitlinien entwickeln, aus denen dann wiederum mittel‑ und kurzfristige Vorschläge abgeleitet werden können.

Aber auch hier schon gibt es zwei Probleme:

Zum einen kann man nicht Jahre oder gar Jahrzehnte im voraus erkennen, welche Entwicklung die Gesellschaft nehmen wird – sei es durch innere, sei es durch äußere Entwicklungen oder Ereignisse. Oder durch veränderte Einstellungen in ganzen Gruppen der Bevölkerung, speziell im Hinblick auf die SPD.

  • Politik muss also flexibel sein, sie muss aber auch rechtzeitig Nebenfolgen ihrer Maßnahmen erkennen. Manchmal sogar andere Prioritäten setzen.

  • Zum anderen ist es aber schließlich Sache der Bürger, zu entscheiden, welche Gesellschaftsordnung sie wollen. (Z.B. ganz aktuell: Es heißt jetzt, in der Klima-Politik müsse man die Menschen ›mitnehmen‹. Aber wohin es dann geht, ob sie wirklich die ›Große Transformation‹ wollen, sollte doch wohl den Menschen selbst überlassen bleiben!)

Fehlentwicklungen in der innerparteilichen Demokratie

Dazu kommt noch eine Erkenntnis: Wer in eine Partei eintritt, insbesondere in die SPD, ist voll engagiert, teilt die meisten ihrer Ziele, meist auch ihre Fernziele. Und unterscheidet sich so zumeist von ihren Wählern, erst recht von den noch zu gewinnenden Wählern. Und er hat ein natürliches Distanzierungs-Bedürfnis gegenüber der Konkurrenz. Wenn er dann in den innerparteilichen Betrieb eingespannt ist, so fällt es ihm schwer, sich in die Wähler hineinzuversetzen, z.B., zu verstehen, dass manche Wähler zwar einen Unterschied erkennen wollen, aber nicht eine Polarisierung.

So kommt es dann oft zur der Tendenz, sich auf die innerparteiliche Durchsetzung der Ziele zu konzentrieren und es der Parteiführung zu überlassen, diese Ziele dem Wähler klar zuvermitteln. Schafft diese das nicht oder stellt sie lieber die Sachen ins Schaufenster, die für den Wähler eher akzeptabel sind, so wird sie dann des fehlenden Mutes oder gar des Verrats geziehen.

Es fehlt also nach wie vor an Einsicht in die Voraussetzungen einer Mehrheitsfähigkeit.

So kommt es, dass die Parteiführung sich immer genötigt sah, vor Parteitagen Seelenmassage mit Kompromiss-Angeboten zu betreiben um so die Delegierten zu vernünftigen Beschlüssen zu bewegen. ( Die Revisions-Klausel im GroKo-Vertrag ist ein Beispiel dafür).

Geschlossenheit

An der nötigen Geschlossenheit hat es schon lange gemangelt. Sicher ist eine lebendige innerparteiliche Diskussion stets ebenso notwendig wie das Aushandeln von Kompromissen. Doch hinter einer aktuellen Diskussion versteckte sich oft ein Streit über die Grundstrategie: Stufenweise Veränderung des Systems oder seine Abschaffung, Reform oder Revolution. Bei den Jusos versteckte sich all das sowieso nicht.

Jeder Dissens wird natürlich von den Medien lustvoll transportiert und oft mit Häme ausgebeutet.

Das gilt vor allem dann, wenn einige mit harscher Kritik an die Öffentlichkeit treten, um sich innerparteilich zu profilieren.

Schlimm wird es vor allem, wenn einmal gefasste Beschlüsse immer wieder in Frage gestellt werden. Wenn z.B. die Mitglieder mit eindeutiger Mehrheit für die GroKo gestimmt haben, dieser Beschluss aber fortwährend lautstark angefochten wird, die von der SPD durchgesetzten Ergebnisse kleingeredet oder kritisiert werden, dann braucht man sich nicht zu wundern, dass beim Wähler der Eindrucke entsteht, die SPD wisse nicht, was sie wolle.

Gift fürs Image!

Geschlossenheit fordern die Linken jetzt, da sie an der Macht sind. Bleibt den so Angesprochenen nichts anderes übrig, da sie sonst zum Sündenbock für das zu erwartende Versagen der neuen Vorsitzenden gemacht würden.

Ist das zuvor Geschriebene noch aktuell?

Nun kann man einwenden:

Selbst wenn das für die Vergangenheit gelten sollte, dann erklärt das doch nicht den Abstieg der letzten 10 Jahre.

Erklärlich wird der Abstieg vor allem durch Merkels Taktik, Positionen der SPD zu besetzen. Dagegen hülfe nur, sich erheblich nach links zu bewegen. Das aber hieße: Adieu an die Mehrheitsfähigkeit. Als ob das der Union geschadet hätte und als ob nicht schon genug SPD-Wähler zur AfD abgewandert wären! Klassenkämpferische Parolen kommen eben nicht an. Der Eindruck eines Linksrucks ist da eher kontraproduktiv.

Und hilfreich war auch nicht die bedingungslose Hingabe der SPD an den Zeitgeist mit seinen Themen und seinen Marotten. Wir haben schon eine milieubedingte Spaltung der Gesellschaft: Auf der einen Seite die breite Masse der ›kleinen Leute‹, die an ihren Werten festhalten, auf der anderen diejenigen, die auf auf sie herunterblicken. Sie sind ihnen zu altmodisch, zu unbeweglich, halten auch noch an Begriffen wie Nation und Vaterland fest, beschweren sich sogar, wenn sie sich wegen der Zuwanderer in ihrem Viertel nicht mehr zuhause fühlen. Kurz: Es fehlt ihnen an Kosmopolitismus. (Die Zeitgeist-Getriebenen merken aber nicht, wie deutsch sie selbst sind. Nämlich dadurch, wie leicht sie sich von irrationalen Emotionen anfeuern lassen.)

Der Abstieg wurde auch durch die Position in der Flüchtlingsfrage gefördert. Abgesehen davon, dass es zur Aufnahme von ein paar Tausend, die in Ungarn feststeckten, vielleicht keine Alternative gab, hätte die SPD doch darauf dringen müssen, gleich danach die Schotten dicht zu machen statt eine naive Willkommens-Kultur zu fördern und damit erst den Ansturm loszutreten.

Dieser Ansturm und die damit offenkundig gewordene Handlungs-Unfähigkeit des Staates verstörten auch viele SPD-Wähler, gerade Stammwähler. Die SPD-Kompetenz in Sachen innere Sicherheit ging so perdu.

Nur zaghaft wagte Siegmar Gabriel Anfang 2016 zu fordern, dass die Aufnahme der ›Flüchtlinge‹ nicht auf Kosten der Einheimischen gehen dürfe. Mehr Signale gab es nicht.

Im Gegenteil:

In der letzten Phase der Koalitions-Verhandlungen 2018 wurde über die Frage des Familien-Nachzugs gestritten. An sich ist dieser eine durchaus vertretbare Sache. Doch ihn zu einem der drei zentralen Knackpunkte zu erheben, musste eben beim Wähler den Eindruck erwecken, dass die SPD in der Flüchtlingsfrage Merkel noch übertrumpfen will.

Spätestens die öffentliche Reaktion auf die Kölner Silvesternacht mit dem folgenden Fehlverhalten der NRW-Behörden hätte die SPD aufwecken müssen. Stattdessen redete sie die Probleme klein und erweckte so den Eindruck, die innere Sicherheit zu vernachlässigen.

Doch die Vorgeschichte der heutigen Malaise erklärt auch:

  • die Ausgangssituation: als der Abstieg begann, hatte sich das Bild der Partei schon stark eingetrübt,

  • dass vielen Wählern auch nicht deutlich wurde, wofür die SPD eigentlich steht,

  • mal ganz von der Frage abgesehen, ob die Führung wirklich stark und eindrucksvoll genug war,

  • vor allem aber: dass die anhaltende Zerrissenheit der Partei, die jetzt voll ins Bewusstsein der Wähler eingedrungen war, zur Undeutlichkeit und Unzuverlässigkeit beitrug.

So setzte sich seit der Wahl 2017 der Abstieg hin zu lebensbedrohlichen Zahlen fort. Das lag zum einen am jämmerlichen Gesamtbild, das die Koalition bot, aber eben auch an dem überlangen Zögern der SPD, am Mobbing gegen Andrea Nahles, zum Schluss noch am Eindruck, den die mühsame Vorsitzenden-Suche erweckte, die SPD sei nur mit sich selbst beschäftigt.

Wenn die SPD seit anderthalb Jahren immer wieder sagt, sie müsse sich erst neu erfinden, dann sagt mancher Wähler: »Erfindet euch mal schön; und wenn Ihr dafür viel Zeit braucht, dann nehmt sie euch. Politik machen inzwischen andere. Und wenn Ihr euch dann entschieden habt, dann werden wir sehr überlegen, ob wir euch noch brauchen. Kann aber auch lange dauern.«

Nun kann man behaupten, der Abstieg von den 20,3% sei eine Folge von Hartz IV und dem müsse mit einem scharfen Linksruck begegnet werden. Wäre dem so, dann wäre bei der Linksaußenpartei in den letzten Jahren ja ein entsprechender Anstieg erfolgt. Den gibt es aber nicht. Natürlich kann man dann behaupten, es wären der SPD eben solche Wähler verloren gegangen, die die Linkspartei nicht wählen wollten und daher zuhause geblieben seien. Das aber hieße dann doch wohl, dass viele Kernwähler eben mit der Linkspartei nichts im Sinne haben – wohl auch nicht als Koalitionspartner.

Linksaußenpartei

Daher schließlich noch ein weiterer Gesichtspunkt – die Haltung zu dieser Linksaußenpartei:

Schon bei der Bundestagswahl 2017 wurde eine Koalition mit ihr nicht ausgeschlossen. Offen bleibt, für wieviele Wähler das von entscheidender oder mitentscheidender Abschreckungswirkung war. Dass es jedoch abschreckend wirken muss, ist unbestritten.

Die Haltung der Partei in dieser Frage: Ab und zu ein meist nur marginaler Hinweis auf die Differenzen in der Sicherheits- und Außenpolitik. Aber auch in der Migrationsfrage, in der diese Partei unbegrenzte Zuwanderung will, wohl in der Hoffnung, so das Proletariat zu schaffen, das die ersehnte Revolution macht. Die Differenzen werden ohne Außenwirkung allenfalls mal zu Protokoll gegeben. Das gleiche gilt für die innen-, wirtschafts- und sozialpolitischen Themen. Man lässt die Linksaußenpartei ruhig an ihrem Wolkenkuckucksheim weiterbasteln und lässt sich noch nicht einmal von ihrer Agitation, wonach die SPD ihre Prinzipien verraten habe, zu Antworten, geschweige denn Gegenattacken hinreißen. Auch damit, dass diese Linksradikalen gesellschafts- und wirtschaftspolitische Grund-Postionen vertreten, die auf einen System-Wechsel weisen, setzt die SPD sich nicht auseinander.

Von Kritik an der unklaren Einschätzung der DDR als Unrechtsstaat und und an den anti-israelischen Tendenzen in dieser Partei ganz zu schweigen.

Es fehlt also insgesamt an einer offensiven Auseinandersetzung.

Noch eine Zukunft für die SPD?

Das kann niemand voraussagen. Das rasche Ende des Hypes um Martin Schulz sollte uns warnen. Ich meine jedoch, dass unser Land auch weiterhin eine Partei braucht, die für soziale Interessen der breiten Mehrheit eintritt. Wer sonst könnte das denn tun?

Und noch etwas:

So massiv die Kritik an der SPD-Politik auch ist, so darf eines nicht übersehen werden: Die fleißige und engagierte Arbeit zigtausender ihrer Mitglieder an der Basis. Nicht das Formulieren ellenlanger Anträge und die langen internen Sitzungen sind gemeint, sondern die praktische Arbeit im Interesse breiter Schichten in den Kommunen und in den Bundesländern. Diese Mitglieder der Basis sind nicht in die SPD eingetreten, um sich in innerparteilichen Kämpfen aufzureiben, sondern im Sinne der Partei für den Bürger und mit ihm zu arbeiten. Das wird ihnen von der Bundespartei schwer gemacht, oft sogar verleidet.