von Ulrich Schödlbauer

Weil der Krieg menschliche Nachbarschaft zerstört. Weil er niemals ein Mittel der Politik sein darf, weil die Politik der Kultur zu dienen hat. Die Kultur dient dem humanen Zusammenleben, und der Krieg ist das Gegenteil. Richard von Weizsäcker

 Who are these Taliban? They are local people, the vast majority are guns for hire, not fighting for some ideological reason... These are local people who need to have a dialogue to understand why, and then they have the choice to have a better life. Gen Sir Graeme Lamb

Geopolitik

In seinem Aufsatz über Geopolitik – Zur Wiederkehr eines verloren geglaubten Begriffs im 21. Jahrhundert (Iablis, 8. Jahrgang 2009) hat Herbert Ammon eine Reihe von Fragen an die deutsche Politik aufgelistet. Sie setzen voraus, dass, unbeschadet der öffentlichen Parolen, eine geopolitische Situation Deutschlands existiert und strategisch bewältigt werden muss. Die Lage in Afghanistan legt es nahe, das dortige militärische Engagement als geopolitisches Exempel zu begreifen und dabei sowohl die Tauglichkeit dieser Perspektive als auch die entstandene Situation zu durchleuchten. Ein Kreuzzug zur Verteidigung demokratischer Lebensstile, in dem die Explosion eines Tanklastzugs zur militärisch-politischen Beinahe-Katastrophe gerät, während massiver Wahlbetrug seitens der unterstützten Partei von interessierter Seite nach kurzem Schwanken zu den Akten genommen wird, ist eine blutige Farce, deren Preis nicht allein die verheizten Soldaten und eine malträtierte Zivilbevölkerung entrichten. Am Ende bleibt es gleichgültig, welche Partei wider eigenes oder wider anderer besseres Wissen lügt: Wer den Schaden hat, hat den Spott, und wer den Spott hat, wird daran innen wie außen, am Herzen wie am Beutel Schaden nehmen.

Kreise

Die geostrategische Aufgabe der Politik eines Landes lässt sich mit ein paar dürren Worten bestimmen. Es handelt sich darum, seine Interessen mit seinem spezifischen ›Gewicht‹ auf dem Planeten in Übereinstimmung zu bringen – oder zu halten. Die Aufgabe verlangt, zwei dynamische Größen zueinander ins Verhältnis zu setzen, die überdies nur um den Preis der Ungenauigkeit klar definiert werden können. Im allgemeinen begnügt sich Politik damit, Kernvorstellungen zu benennen, deren Folgen allerdings, wie im Fall Afghanistan geschehen, über Nacht gewaltige Ausmaße annehmen können. Der Inflation der Interessen folgt die Inflation des Eigengewichts auf dem Fuß – Grundlage aller illusionistischen ›Gestaltung‹. Geopolitik ist nicht von Haus aus imperial, auch wenn diese Vorstellung nach wie vor in gewissen Köpfen spukt. Auf der Theorieseite handelt es sich um eine Forschungsrichtung mit – idealiter – engen Verbindungen zur operativen Politik, in der die faktisch bestehenden komplexen Relationen zwischen dem einzelnen Staatswesen und dem Rest des Planeten, soweit sie in der Politik ihren Ausdruck finden, einer konstanten Analyse unterzogen werden.

(1) Bevölkerung (black hole 1)

Das spezifische Gewicht eines Landes misst sich, neben den üblicherweise genannten Faktoren wie Größe, geographische Lage, Wirtschaftskraft, militärische Stärke, Bündnisstrukturen usw., an dem, was das statistische Bundesamt ›Bevölkerung‹ nennt. Einwohnerzahl, Geburtenrate, Altersstruktur, Ausbildungslage, Migrantenanteil, nationale und kulturelle Integration grundieren jede denkbare Politik. Sie sind das, was nicht weggeht, obwohl es im Wunschdenken von Politikern und Ideologen als erstes zu diffundieren pflegt. Ein Land, das, wie die Mehrzahl der europäischen Länder, auf der Schwelle zwischen Herkunfts- und Einwanderungsland, das heißt zwischen einem kulturell-ethnischen und einem auf rechtlich-soziale Integration ausgerichteten Selbstverständnis angesiedelt ist, unterscheidet sich darin grundlegend von offensiv ethnozentrischen oder auf das Selbstverständnis von Einwanderern gegründeten Staatswesen. Das Volk, der ›große Lümmel‹, produziert seine Konflikte entlang den demographischen Linien, die es mit der Welt verbinden, und die Politik ist gut beraten, wenn sie begreift, dass sie diesen Tiger reiten, aber nicht besiegen kann. So gesehen, verfügen Länder wie die USA oder Israel über andere Politikpotentiale (und -risiken) als ein durchschnittlicher westeuropäischer Staat. Aber auch hier gibt es Unterschiede.

(2) Europäische Union (black hole 2)

Nationales, gemeinsames und supranationales Handeln bilden nach dem Willen der Mitgliedstaaten eine Einheit, der praktisch Rechnung zu tragen ist. Im Konfliktfall bedeutet das: Engländer, Franzosen, Italiener, Deutsche, Polen handeln aus dem europäischen Kräfte- und Organisationsfeld heraus als Engländer, Franzosen, Italiener, Deutsche, Polen. Die Welt nimmt sie als Europäer wahr und verrechnet ihr Handeln mit den Interessen Europas. Europa ist eine Maske, aus der abwechselnd die verschiedensten Stimmen dringen – die einen kennt man, die anderen glaubt man zu kennen. Wie immer stärkt – gemäß der Formel ›Stabilität und Wachstum‹ – der dauerhaft im Werden befindliche ›einheitliche Wirtschafts- und Sozialraum‹ das ökonomisch-politische Gewicht der Einzelstaaten. Dagegen leidet die gemeinsame Außenpolitik unter Instabilität und Wachstumsstörungen und kollabiert regelmäßig in den die Entscheidung über Krieg und Frieden betreffenden Fragen. Das könnte sich auch im afghanischen Fall erweisen, obgleich hier die Nato die stärkere Klammer bildet. In der Verbindung von Außen- und Sicherheitspolitik leben die divergenten Denkstile nationaler Eliten mitsamt ihren traditionellen Stärken und Schwächen vielleicht am sichtbarsten fort.

(3) Sonderfall Deutschland

In gewisser Weise stellt jedes Land einen Sonderfall dar. Der Perspektivwechsel, der eintritt, sobald es seine Belange in der Welt bündelt und strategisch definiert, vervielfacht das Bild des Planeten. Man kann auch sagen: es zerfällt, sobald ausschließlich von Interessen die Rede ist. Gerade die gemeinsamen oder ›geteilten‹ Interessen zeigen dies deutlich: Interessenkoalitionen sind Mittel zur Durchsetzung eigener Ansprüche, nicht freundliche Aufforderungen an die kooperierende Seite, die ihrigen zu entfalten. Die strategische Nachkriegskonstellation des geteilten Deutschland ist in dieser Hinsicht ein Lehrstück. In ihr gab es überwältigende Gründe dafür, das nationale Interesse (die nationalen Interessen) fallweise gegen die nationale Identität zu definieren und zu verfolgen. Aus dieser Zerreißprobe gingen keineswegs beide Staaten mit gleichem Erfolg hervor. Die Republik Deutschland hat dieses Erbe nolens volens übernommen und inkorporiert, sichtbar in der Auflösung des hergebrachten Parteienspektrums, deren identitätspolitischer Kern nicht immer gründlich bedacht wird. Sie besitzt auch ein außenpolitisches Pendant, betrachtet man die doppelten Erwartungen an die deutsche Politik gegenüber Ländern, die in jener vergangenen Weltphase dominierten oder auf der Stelle traten und nach einer neuen weltpolitischen Aufgabe streben. Die kurzlebige Achse Paris – Berlin – Moskau, in der öffentlichen Wahrnehmung kaum mehr als eine flüchtige, unter dem Druck der Ereignisse rasch revidierte Interessenverbindung, zielte auf diesen Punkt. Sie musste zerbrechen, weil sie den gerade erneuerten transatlantischen Anspruch auf world leadership nicht richtig kalkulierte, wohl auch nicht kalkulieren konnte. Nationale Blamagen dieses Stils vertragen sich glänzend mit der europäischen Sonderkonstruktion eines unter äußerem Druck rituell kollabierenden semi-supranationalen Quasi-Machtzentrums. Die Kräfte der ›großen‹ europäischen Staaten schwinden auf wundersame Weise dahin, sobald sie auf die Waagschale der Weltpolitik geworfen werden. Stark sind sie, wie stets nach dem Zweiten Weltkrieg, in und mit Europa nach Maßgabe der europäischen Gegebenheiten inclusive ihrer strukturellen Schwächen. »Kommt in dreißig Jahren wieder«, möchte man ihnen raten, aber ein Weg ist das nicht. Die Schattenweltmacht Europa bringt das Kunststück fertig, den Schatten selbst zu werfen, in dem sie verschwindet. Sie misstrauen einander, die Europäer, ihr Misstrauen ist tief genug verankert, um ihnen zu erlauben, Vertrauen zu ›schenken‹ und am ›gemeinsamen Haus Europa‹ hier und da ein paar Kellen zuzulegen, ohne z. B. die darin fortexistierende radikale Differenz zwischen Atommächten und atomaren Habenichtsen zum Gegenstand gemeinsamer Analysen zu machen. Dem potenten Habenichts Deutschland fällt in diesem System eine Rolle zu, die er bereits kennt: die des Parasiten, der machtpolitisch über seine Verhältnisse lebt, weil er es sich leisten darf und munter geschoben wird, solange die Vormacht ökonomisch über ihre Verhältnisse lebt und damit seine ›Wirtschaftskraft‹ stabilisiert.

Machtpolitik

Der Gebrauch eines – im Grunde überflüssigen – Wortes wie ›Machtpolitik‹ erzeugt zwiespältige Empfindungen. Es erweckt den Eindruck, Macht und Moral radikal zu separieren. Gerade deshalb lohnt es sich hier, auf klare Begriffe zu sehen. Wer wie selbstverständlich ›die Macht‹ in einem (oder mehreren) bösen und einem guten Zentrum lokalisiert und großzügig externalisiert, mag durch Wegsehen anderen gute Dienste leisten, nicht jedoch der politischen Kultur. Die Verbindung von Politik und Macht ist eng, unauflöslich und unteilbar – Machtfelder zeichnen sich dadurch aus, dass sie ›schon immer‹ besetzt sind. Eine durchdachte Politik, die Macht in jeder Form und Konzentration in Rechnung stellt, bedient sich selbstverständlich geostrategischer Analysen, andernfalls steht sie in Gefahr zu irrealisieren, das heißt sich ihre Risiken methodisch zu verdecken.

Machtpolitik: Ziele

Hegemonie

a. Kulturelle Hegemonie: Fähigkeit eines Akteurs, eigene Interessen als Allgemeininteressen zu definieren und durchzusetzen (Das ist, kurz gesagt, die Formel Gramscis, der sie vor allem auf interne gesellschaftliche Konstellationen angewandt wissen wollte)

b. Materielle Hegemonie: Vormachtrolle eines Staates oder einer Staatengruppe auf Grund sogenannter capabilities (Fertigkeiten) militärischer, organisatorischer und ökonomischer Art

Suprematie

a. Oberhoheit, Oberherrschaft, Vorherrschaft: direkte, vertragsförmige Herrschaft einer Instanz – eines Staates, einer inner- oder suprastaatlichen Institution – über nachgeordnete Instanzen: Staaten, halbstaatliche Gebilde, Institutionen, Herrschaften minderer Reichweite und minderen Rechts

b. Institutionalisierte Asymmetrie zwischen Handlungspartnern: rechtlich durch ungleiche Verträge, militärisch durch Besetzung, ökonomisch durch rechtlich und/oder militärisch abgesichertes Diktat

Einfluss

a. informelle Asymmetrie

b. Symmetrie: System(e) von Wechselwirkungen

Die beiden Hegemonietypen treten selten isoliert auf. Aus gutem Grund, denn sie sind aufeinander angewiesen, wenn sie sich durchsetzen sollen. Der Zusammenbruch des einen zieht das Verschwinden des anderen über kurz oder lang nach sich. Hegemonie verträgt sich nur schwer mit jenem diffusen Weltzustand, in dem viele einander um ihrer selbst willen gelten lassen, weil sie nun einmal den Planeten bevölkern. Hegemonie ist agonal, sie erzeugt monolithische, bipolare oder multipolare (Welt)systeme. In ihnen werden die Rollen und Aufgaben von Staaten auf Zeit festgeschrieben. Wer sie festschreibt, wann, wie mit welchen Ergebnissen und mit welchem Ausgang, entscheidet weitgehend über etwas, das nicht nur Historiker den Gang der Geschichte zu nennen pflegen. Suprematie hingegen ist statisch: ihr kommt die Aufgabe zu, Hegemonial-, sprich: Machtverhältnisse durch symbolisch-rechtliche Normierung auf Dauer zu stellen. Das ändert nichts an ihrer begrenzten Laufzeit, sobald die Kräfteverhältnisse sich ändern, aber es rückt sie all denen aus dem Blick, deren eigene Verhältnisse sich auf einschlägige Rechtstitel gründen. Dagegen misst Einfluss der Zeit den größten Anteil an den Verhältnissen zu: wo alles als im Fluss befindlich gedacht wird, ist permanente Chancenwahrung bei steter Beachtung der wechselnden Parameter das Gegebene. In dieser Hinsicht sind hier Symmetrie und Asymmetrie unterschiedliche, einander partiell widersprechende Ziele, die sich ohne einander nicht erreichen lassen. Stabile, auf allen Ebenen hergestellte Symmetrie wie Asymmetrie – Traumbild vieler Ordnungsdenker – lässt das Spiel versanden und erzeugt Zwangssysteme.

Machtpolitik: Instrumente

›Wir kennen unseren Platz in der Welt.‹ Der oft zu hörende Satz gehört bereits zum Instrumentarium der Mächte. Er erinnert daran, dass ihr erstes Kapital Vertrauen heißt. Anders als man gelegentlich liest, ist d ieses Kapital nicht leicht zu verspielen, da es auf der Trägheit großer Massen gründet. Deshalb genießt ein Staat mit einem differenzierten Rechtssystem mehr Vertrauen in der Welt als einer, der durch die bizarren Einfälle eines weisen und gütigen Anführers regiert wird. Deshalb wird einem großen Staat mehr Vertrauen entgegen gebracht als einem kleinen – er lässt sich so leicht weder von außen noch von innen umstoßen. Deshalb auch steht das Misstrauen gegenüber einem großen Staat, der sein Vertrauenskapital einmal verspielt hat, wie ein Fels in der Brandung: Es kommt bei jedem erdenklichen Anlass wieder hervor, manchmal auch ganz ohne Anlass. Deshalb schließlich stehen Vertrauen und Misstrauen im Umgang mit den großen Mächten so hart beieinander. Die Parteien müssen miteinander auskommen, also kommen sie miteinander aus. Für einen kleinen Staat, der das in ihn gesetzte Vertrauen verliert, ist das Spiel aus. Da liegt ein Unterschied.

Mittlere Mächte maskieren ihre Instrumente als Ziele. Das ist verständlich, denn es entlastet das politische Geschäft, nicht zuletzt den Umgang mit ihresgleichen. ›In ihrem Interesse und dem der Welt‹ liegt es, durch den Abbau von Suprematie Gleichheit, sprich: Symmetrie in den internationalen Beziehungen herzustellen. Dazu bedarf es ›offener Felder‹ wie der Ökonomie, auf denen Interessenvertretung legitim ist und entsprechend den geltenden Regeln nicht behindert werden darf. Daher beginnen die Augen bestimmter Politiker zu glitzern, wenn von der Abschaffung des Dollarstandards die Rede ist.Man darf die Rede darauf bringen, ohne weiterreichender Ambitionen verdächtigt zu werden. Dem Harmlosen gehört das Spiel.

Hegemonie lässt sich nicht abschaffen, aber sie lässt sich begrenzen. Das gilt in Bezug auf eine existierende Hegemonialmacht so gut wie in Bezug auf Hegemonie allgemein. Deshalb arbeitet die ›mittlere‹ Politik unermüdlich an der Erweiterung des bestehenden Hegemonialsystems, d.h. an der Schaffung neuer und an der Aufwertung bestehender (Sub)-Zentren.

Supermächte pflegen ihre Ziele als Instrumente zu maskieren. Das liegt unter anderem daran, dass sie den Zielen gewöhnlich näher sind als die anderen. »So nah am Tod sieht man den Tod nicht mehr« – man weiß sich vielmehr außerordentlich lebendig und unbeirrbar im Ausleben des für sich und die Welt reklamierten Lebensstils. Den ›eigentlichen‹ Instrumenten bekommt das, sie werden zu – bedauerlichen – Notwendigkeiten. Also –

a. Suprematie: ausbauen, halten, Abbau verzögern

b. Hegemonie: ausbauen und verteidigen

c. Vorsprung: sichern durch Ausbau von capabilities, kulturelle Aggression, ökonomische und militärische Intervention.

Die Existenz eines Hegemons (mehrerer Hegemone) stellt traditionelle Regional- und Mittelmächte vor die Wahl, sich in die Klientenrolle zu begeben oder auf Konfrontationskurs zu gehen. Das ist ein altes Stück, dessen Aufführung das Weltpublikum alle Tage beiwohnt. Was zum Teufel kann eine relativ schwache Macht in die Versuchung führen, die starken Mächte herauszufordern? Die Antwort lautet: mancherlei. Die Rollenverteilung innerhalb von Hegemonialsystemen ist komplex und hart umkämpft – das lässt die Rolle des Newcomers nicht immer attraktiv erscheinen, vor allem dann nicht, wenn sie mit der Neustrukturierung, sprich: dem Zusammenbruch der angestammten Einflusszone einhergeht. Aber der riskante Entschluss, die dominierende Macht herauszufordern, legt ein existentielles Machtproblem bloß. Der Herausforderer darf sich erst dann in relativer Sicherheit wiegen, wenn er über die Schwellenkapazität verfügt, die den Preis eines Angriffs auf ihn zu hoch erscheinen lässt. Soll heißen: Die von ihm gewählte Aufgabe besteht darin, die möglicherweise bestehende Lücke zwischen Ausgangskapazität und Schwellenkapazität so rasch wie möglich schließen, ohne in den Abgrund einer unzeitigen Konfrontation zu stürzen, die er womöglich nicht überlebt. In diesem Abgrund sind mehr Großmachtphantasien zerschellt, als es der Menschheit im Ganzen bekommen ist. Genau aus diesem Grund kann man behaupten, dass er die ›große‹ Politik dominiert – als Angstfaktor Nummer eins. Er verleiht den strategischen Überlegungen der Großen in den Augen der Öffentlichkeit ihre paranoiden Züge.

Konzeptionen, welche die ›Lücke‹ schließen sollen:

a. Aufrüstung, wie gehabt, also atomare, chemische etc. Bewaffnung, die ›gleiche Augenhöhe‹ schaffen soll, aber von der Vormacht (den Vormächten) naheliegenderweise als Angriff auf den Weltfrieden betrachtet wird

b. ökonomische Entwicklung: ein allseits gefördertes (und gefordertes) Verfahren, das ›ernsthafte Verhandlungspartner‹ schafft und Abhängigkeiten erzeugt, die eine künftige Feintarierung der Interessen erlauben – innerhalb des bestehenden Weltsystems

c. Antikapitalismus, ›Klassenkampf‹ etc. als ›böse‹, jedenfalls unbequeme Entwicklungsvariante

d. die scheinbare Ziellosigkeit der ›asymmetrischen Kriege‹ (Münkler), des Terrorismus, des Djihad etc., die auf Delegitimierung der dominanten Mächte zielt, also auf die Zerstörung von kultureller Hegemonie

e. Bildung supranationaler Einheiten (EU).

Afghanistan – ein geopolitisches Exempel

»In der heutigen Welt haben wir es mit drei Ebenen zu tun: Auf der untersten Ebene der vergessenen Konflikte stehen Staaten mit zusammengebrochenen Strukturen. Auf der zweiten Ebene stehen die Konflikte, wo regionale Akteure agieren: Der Nahostkonflikt ist dabei einer der gefährlichsten, aber auch der Kaschmirkonflikt und die Konflikte im nördlichen und südlichen Kaukasus und an vielen anderen Stellen der Welt, insbesondere in Afrika, zählen dazu.

Die oberste Ebene sind die großen Mächte und ihre Bündnisse. Wir Europäer werden uns, wenn wir unsere Sicherheit und die Sicherheit unserer Kinder ernst nehmen, engagieren müssen, vor allen Dingen in unserem strategischen Umfeld. Wir dürfen nicht einen neuen Totalitarismus zulassen. Deswegen sind wir in Afghanistan. In Afghanistan sein bedeutet, dass wir umsetzen müssen, was Brahimi gelungen ist, nämlich einen Konsens herbeizuführen und ihn in den Petersberg-Vereinbarungen entsprechend auszuformulieren. [...]

So wichtig die Nichtregierungsorganisationen sind: Es geht nicht hauptsächlich darum, Nichtregierungsorganisationen zu schützen. In erster Linie geht es um den politischen Prozess. Wir werden im nächsten Jahr einen höheren mobilen Faktor bei ISAF brauchen, um die Wählerregistrierung und die Wahlvorbereitung entsprechend umzusetzen. Aber auch das ist es nicht allein, sondern hinzu kommt die Ausdehnung des Institutionenbaus; ich nenne Polizeiaufbau, Ziviladministration, Infrastruktur. In dem Zusammenhang spielen dann auch die Nichtregierungsorganisationen eine ganz gewiss nicht unwesentliche Rolle. Das ist der Gesamtansatz.

Es gibt zwei andere Alternativen: Entweder wir bleiben nur auf Kabul begrenzt – das würde bedeuten, dass wir denPetersberg-Prozess an einem bestimmten Punkt abbrechen, das kann allen Ernstes niemand wollen – oder aber wir brauchen einen Aufwuchs um 10.000 und mehr zusätzliche Soldaten, was ich schlicht und einfach unter praktischen Gesichtspunkten in der internationalen Gemeinschaft als nicht darstellbar und nicht machbar ansehe. Wir müssen dann auch Acht geben, dass wir nicht die Frage nach der Hilfe zur Selbsthilfe, nach der Hilfe zur Wiedergewinnung der Souveränität schließlich überlagern durch etwas, was Besatzung heißt.«

Bundesaußenminister Joseph Fischer, Rede vor dem Deutschen Bundestag am 10. September 2003

Souveräne Politik

Geostrategisches Handeln, so die Annahme, setzt eine souveräne Politik voraus. Die bloße Tatsache, in ein Bündnis eingebunden zu sein, das weltweiten Einsatz von seinen Mitgliedsstaaten fordert, und dieser Tatsache mehr oder minder angemessen Rechnung zu tragen, genügt den Kriterien globalen, aber nicht souveränen Handelns. Das gegenwärtige Weltsystem kennt Modelle abgestufter Souveränität: die EU-Verträge zählen dazu ebenso wie das Sanktions- und Interventionsrecht der Vereinten Nationen. Vor allem schafft der Besitz strategischer Atomwaffen, generell: die waffentechnologische Differenz zwischen Staaten und Staatengruppen unterschiedliche Klassen souveräner Mächte.

Souveränität stößt auf Grenzen, innere und äußere, sie ist, strikt gesprochen, ohne Grenzen weder denk- noch realisierbar. Darüber hinaus ist sie ein Produkt von Realisierung: man muss sie in Anspruch nehmen, um sie zu besitzen. Zu den klassischen Kennzeichen souveräner Politik zählen:

a. Sicherung der ›materiellen Basis‹: Zugang zu Rohstoffen, Technologien, Kapitalien

b. Erschließung von Absatzmärkten: ökonomische Expansion

c. Steigerung kultureller Attraktion: Schaffung von Handlungslegitimität durch Export des eigenen ›Modells‹

d. Fähigkeit und Wille, über Krieg und Frieden zu entscheiden.

Die Punkte a und b kennzeichnen die Politik aller ökonomisch ›entwickelten‹ Staaten. Wer hier fehlt, der verschwindet kurz oder lang aus ihrem Kreis. Zahl und Art der geostrategischen ›Spieler‹ im engeren Sinn sortieren sich angesichts der Punkte c und d. Das erklärt wenigstens zum Teil die Verbissenheit, mit der Staaten, die Besseres zu tun hätten, sich als ›treue Bündnispartner‹ in einer verlorenen Sache ›engagieren‹ – zum Teil, nicht zur Gänze.

Die »oberste Ebene«: First in – first out

Das afghanische Engagement ist ein Kind der Neuen, unter George Bush sen. nach dem Ende des Kalten Krieges konzipierten Weltordnung. Der erste Golfkrieg und die Jugoslawien-Kriege tragen den Stempel militärischer ›Eingriffe‹ seitens der dominierenden Mächte, wie diese Ordnung sie vorsah. Nach dem 11. September 2001 änderte sich ihr Charakter insofern, als die Garantiemacht sie in ein Stadium permanenter, sich ihre Schauplätze nach Opportunität wählender militärischer Aktion überführte. Dieses Stadium dauert an. Wie weit die Neue Weltordnung heute noch gilt, dies zu beurteilen muss den Astrologen des Weißen Hauses überlassen werden. Das ist misslich, aber von einer stark parfümierten, von Propagandaschwaden durchzogenen Politiksprache lässt sich wenig Aufschluss erwarten. Doch scheint es Modifikationen gegeben zu haben.

Die Neue Weltordnung versprach, das Verhältnis zwischen dem Hegemon und seinen Klienten nach dem Ausfall des östlichen Gegenspielers zu regeln. Das Neue daran reflektiert die Bezeichnung ›Hegemon‹ für die Vor- bzw. Garantiemacht der ›Wertegemeinschaft‹, die sich verpflichtete, weltweit Demokratieexport zu betreiben, und dafür Sonderrechte von den Verbündeten bzw. gegenüber der Weltgemeinschaft forderte und teilweise durchsetzte. Man konnte darin eine Klarstellung älterer Verhältnisse sehen oder eine Politik, wie die Welt sie bis dahin nicht kannte – unmittelbar folgte aus ihr die Umwandlung der Nato in ein weltweites Interventionsinstrument der Vormacht unter ›angemessener Beteiligung der Verbündeten‹.

Was immer der Name ISAF bezeichnet, es ist jene ›Nato des 21. Jahrhunderts‹, die sich Afghanistan als Schlachtfeld verordnet hat. Dort wird nach dem irakischen Fiasko über ihr Schicksal entschieden. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen spielt demgegenüber eine nachgeordnete Rolle. Seine Entscheidungen reflektieren Macht und Ohnmacht der globalen ›Partner‹, nicht mehr, nicht weniger. Das kann sich zum gegebenen Zeitpunkt ändern. Der sogenannte ›Petersberg-Prozess‹ wiederum ist zu sehr Instrument, um als eigenständige Größe ins Gewicht zu fallen: eine Blaupause zur Errichtung Potemkinscher Fassaden, in die jedes anreisende Reporterteam Löcher in beliebiger Größe zu bohren weiß.

Die Sternenkrieger der George W. Bush ›auf den Boden‹ gezwungen zu haben ist eine taktische Leistung ersten Ranges, die nicht wahrzunehmen sich die westlichen Öffentlichkeiten unisono verordnet haben. Ihre bevorzugte Lesart weiß nur von punktuellem Terror vor wechselnden Orten, getrieben von ›Hass‹ und ›Neid‹ auf die westliche Lebensform. Moralisch ist das simplistisch, intellektuell eine Bequemlichkeit, strategisch eine Absurdität. Das Ende der famosen First-in-first-out-Strategie hat die amerikanischen Freunde den Verbündeten wiedergegeben, ob zur einhelligen Freude beider Seiten, bleibe dahingestellt. Die neue Einmütigkeit, angesichts der Lage vor Ort durch die Finger zu sehen und den Rest den Militärs zu überlassen, hilft den Kulissenspielern und schädigt den demokratischen Verstand. Niemand bezweifelt mehr, dass Afghanistan zum Prüfstein der westlichen Hegemonie geworden ist, wie Joseph Fischer 2003 lakonisch feststellte – womit er, im Grunde unironisch, vor einer wenig verblüfften deutschen Öffentlichkeit der entsprechenden Einschätzung Bin Ladens folgte. Daraus resultiert die Furcht, die heute in Kabul und in den westlichen Hauptstädten regiert.

Regionaler Stabilitätsfaktor oder Besatzungsmacht?

Fischers »Hilfe zur Wiedergewinnung der Souveränität« ordnet Afghanistan unter die »Staaten mit zusammengebrochenen Strukturen«, die sogenannten ›rogue states‹ ein, also auf der »untersten Ebene« des internationalen Staatensystems. Ob diese Einschätzung auf den Taliban-Staat vor dem amerikanischen Einmarsch zutraf, ist fraglich. Von vergessenen Konflikten konnte hier sicher nicht die Rede sein. Afghanistan hat seine Erfahrungen mit dem verordneten Fortschritt ins mittlerweile abgehakte 20. Jahrhundert hinter sich, ausländische Interventionen waren dabei auf den verschiedensten Stufen die Regel. Dieses malträtierte Land mit seiner angeblichen Unfähigkeit, die eigenen Dinge zu ordnen, ist zu offensichtlich ein Opfer seiner geostrategischen Lage zwischen den Ölstaaten und Pakistan – dem ›islamischen Krisenbogen‹ –, dem Zerfallsgebiet der ehemaligen Sowjetunion und der aufsteigenden Weltmacht China, als dass man diesen Aspekt vernachlässigen dürfte. Die ›Stabilisierung‹ dieser Region durch Interventionstruppen dient der Durchsetzung klassischer hegemonialer Ansprüche. Die ›wiederzugewinnende‹ afghanische Souveränität kann daher nur gespalten sein: akzeptabelwird sie erst als ›freundliche‹, den Interessen der Interventionsmacht gefügige, und damit notwendig mit sich selbst in Widerspruch stehende Größe.

Ein solcher Widerspruch lässt sich aushalten, allerdings nur dann, wenn das Land als befriedet gelten darf. ›Unfrieden‹ aber, das zeigt das palästinensische Beispiel wie dutzende anderer, ist zu relativ niedrigen Kosten für die Akteure zu erreichen. Die hohen Kosten trägt die Zivilbevölkerung. Auch das ist Kalkül: es unterhöhlt die ›wiederzugewinnende‹ Souveränität von Tag zu Tag, weil es ihr die Legitimation von innen entzieht. Sollte es den intervenierenden Mächten darum gehen, einen langen Krieg zu unterhalten, da sich ihre militärische Präsenz in der Region anders nicht rechtfertigen ließe, dann wären sie mit den ›Terroristen‹ in einer win-win-Situation, angesichts derer die Zweifel eingefleischter Zivilisten nur stören. Sollten sie allerdings so nicht auf ihre Kosten kommen, dann befänden sie sich Tag um Tag fehl am Platz, weil ihre wirkliche Anwesenheit auf afghanischem Boden wirkliche Souveränität wirksam verhindert. Unbegrenzte Abnutzungs- oder Verschleißstrategien haben den Nachteil, dass sie irgendwann in Zynismus gegen die eigene Seite umschlagen – der sichere erste Schritt in die Niederlage.

Die deutschen Truppen sind zu sehr ›verbündete Hilfstruppen‹, als dass sich davon absehen ließe. Drastisch erfährt die deutsche Öffentlichkeit, nachdem das Konzept, als militärischer Aufbauhelfer durchzugehen, zusammengebrochen ist, was jedermann weiß: dass es keine deutsche Option in Afghanistan gibt und es auch keine geben kann. Die Deutschen sind dort ebenso nützlich wie schädlich wie überflüssig und sie wissen es. Sie können nicht weg, weil der ›Hegemon‹ es so will, sie können nicht bleiben, ohne mit ihrem Grundgesetz und sich selbst in Konflikt zu geraten. Natürlich sind sie Besatzungsmacht und es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich zähneknirschend dazu zu bekennen. Als Besatzungsmacht sind sie Verbündete der vom Westen gestützten Regierung, ob ›Freunde‹ im Sinn der alles regelnden Wertegemeinschaft, ist nach der Deklassifizierung der Wahlen, die Legitimität schaffen sollten, fraglich. Als Verbündete der Regierung sind sie kämpfende Truppe und als kämpfende Truppe beliebig hervorzukramendes Feindbild für eine Regierung, die rational handelt, wenn sie die Fremden mehr und mehr als Sündenböcke für das eigene Legitimitäts- und Machtdilemma heranzieht. Das alles liegt auf der Hand und lässt sich weder mit Geld noch guten Worten noch elaborierterem Gerät noch intensiverem psychologischem Training ›unserer Leute‹ wegschaffen.

Strategisches Kalkül

Die Behauptung, ›unsere Sicherheit‹ werde am Hindukusch verteidigt, steht und fällt mit der Bush-Doktrin, Terrorismus und aufnehmende bzw. unterstützende Staaten in gleicher Weise als Feinde im War on Terrorism zu behandeln. Der Afghanistankrieg war die erste Anwendung dieser Doktrin, er wird möglicherweise die letzte sein. Außerhalb des War on Terrorism ist ein vertretbarer Sinn dieses Krieges nicht erkennbar. Seit klar wurde, dass er nicht zu gewinnen ist, vielmehr die Kämpfer, die durch ihn eliminiert werden sollen, in Scharen hervorbringt, steht der Verdacht im Raum, es mit einem Prestigekrieg zu tun zu haben, in dem die Militärs den Politikern und öffentlichen, aufs ›Wir‹ spezialisierten Plaudertaschen ihrer Heimatländer Gelegenheiten spendieren, Weltenlenker zu spielen, um im Gegenzug personal- und mittelgesättigt den berufsaffinen Erfahrungsraum Krieg auszuloten. Dennoch ist dies kein Krieg der Militärs, sondern der militärischen Projektionen von Zivilbevölkerungen. Psychologisch wäre ohne die intime Vertrautheit des Publikums mit ›künstlichen‹, ›menschenähnlichen‹, im Auftrag des Bösen allenorts ›einsickernden‹ Kinofiguren, die von Spezialeinheiten erkannt, gestellt und eliminiert werden müssen, um ›der Menschheit‹ das Schlimmste zu ersparen, ein Ausrottungsfeldzug gegen kaum weiter qualifizierte ›Terroristen‹ nicht auf Dauer zu führen. In dieser Hinsicht gleicht ›Afghanistan‹ einem etwas aufwendig gedrehten Hollywood-Film mit realen Toten, Verwundeten, Traumatisierten, Demoralisierten und Helden. Die Überzeugung, einer ›echten‹ Jagd auf Aliens beizuwohnen, eint die Soldaten der Allianz und ihr heimisches Publikum – vorerst.

Um solche Aktivitäten auf Dauer zu stellen, bedarf es der ›Staaten mit zusammengebrochenen Strukturen‹, angesichts derer immer zu fragen wäre, ob sie unter äußerem oder innerem Druck auseinanderbrachen. Doch stehen sie nicht zwingend am Anfang der Operationen, sondern markieren das Ende, das den Aufschub in sich trägt. Es sind Klientenstaaten der untersten Stufe mit einer korrupten Führung, einer korrupten Bürokratie und einer ebenso korrupten Infrastruktur, die in symbiotischer Koexistenz mit ›befreundeten‹ Besatzungsarmeen dahinvegetieren. Diese neue internationale Klasse von Staaten bedient, wie öfter beschrieben, die Interessen von Militärs, Privatarmeen, NGOs und mafiaartigen, international vernetzten ›Strukturen‹ vor Ort so präzise, dass es an ein Wunder grenzte, wenn die ausgelobten Konflikte für alle Seiten erkennbar in einem ›vernünftigen Zeitrahmen‹ beendet würden.

Man kann es Ironie der Geschichte nennen, dass angesichts der Strategie des asymmetrischen Krieges, der new wars of low intensity hochgerüsteter Mächte gegen ideologiestarke und verdeckt gesponsorte Habenichtse, ein Land vom Zuschnitt Afghanistans zum Gelände für eine Entscheidungsschlacht auserkoren wurde, die vielleicht nach Mitteleinsatz und Länge ungewöhnliche Züge trägt, aber nicht im erwarteten Resultat: Hier sollen die Kräfte des Bösen gestellt und zerrieben werden (»to root out terrorism«, wie es in Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen heißt), hier sollte und soll, nach den Vorgaben Clausewitz’, die Entscheidung in diesem ›Weltkrieg‹ erzwungen werden. Die Rhetorik wurde inzwischen zurückgefahren, die Zahl der Soldaten und Einsätze erhöht. In diesem System ist der Sieg eine unabhängig vom schwierigen Tagesgeschehen fest verbuchte Größe, an Niederlage darf nicht gedacht werden. Die Grausamkeit der auf unbestimmte Dauer eingeregelten Schlacht diktiert ihr eliminatorischer Elan: Wo die strategische Vernichtung des Gegners im Unerreichbaren liegt, wird die physische Auslöschung zum von Tag zu Tag sich fortwälzenden Selbstzweck. Wen störts? Wenn muntere Fernsehmoderatorinnen von der neuen Normalität des Krieges schwatzen, fühlt man sich an die bösesten Tiraden eines Karl Kraus erinnert – und schweigt.

Warum Afghanistan? Das Land punktet nicht, wie bis vor kurzem Deutschland, mit panzerfreundlichem Gelände. Dafür lockt die strategische Mittellage. Die postmoderne Kombination aus Luftkrieg und ›Bodenterror‹ hat den Strategen aller Lager dieses Land in den Schoß gelegt. Für Amerikaner befindet sich Afghanistan – ein psychologischer Vorteil, an der Heimatfront hochwillkommen –, auf der anderen Seite des Globus, für islamische Glaubenskrieger steht es zwischen allen Stühlen. Der Westen besitzt vielleicht keine Glaubenskrieger, dafür jedoch gelangweilte Überzeugungstäter, denen man ohne viel Federlesens einreden kann, sie kämpften in einem fremden Land für die Rechte der Frau, überhaupt für zivile Verhältnisse und ›elementare technologische Standards‹. Die Wiedererweckung des kolonialen Reflexes ist vielleicht das deprimierendste Ingredienz dieses Krieges. Natürlich erleichtern die fremde und darum ›befremdliche‹ Religion und eine als ›überwunden‹ ausgegebene, mit dem heutigen Weltsystem angeblich unvereinbare Kultur das moralische Abgleiten des Westens. Vor allem garantiert die fehlende ökonomische Potenz des zum Aufmarschgelände mutierten Landes, dass Unruhe im ökonomischen System nicht zu befürchten ist, solange die eigenen Ausgaben nicht davonlaufen. Auf dieses Schlachtfeld können sich viele ›Partner‹ einigen – zu viele, um es ungeschoren davonkommen zu lassen, solange die strategische Situation sich nicht grundlegend ändert. Man will die Opfer schützen – aber gewiss doch.

Die europäische Situation

Ein nüchterner Blick auf die Situation der Union lässt den Glauben an ihre eigenständige Rolle rasch verblassen. Ein eifersüchtig seinen privilegierten Status-Co und ererbte imperiale Reflexe hütender Klientenstaat im Verbund mit zwei düpierten Führungsstaaten, die Schadensbegrenzung durch Bündnistreue betreiben, ein paar vom Nahinteresse halbwegs zur Räson gebrachte Positionsgewinnler und eine Reihe stolzer Mitläufer, für die Dabeisein alles bedeutet, ließen bisher alles Mögliche denkbar erscheinen, aber keine aus gleicher Motivlage stammende Politik. Erst die sich abzeichnende Niederlage und der zu erwartende Wettlauf in die rettenden Boote lassen anderes erwarten: diese Gelegenheit, immerhin, kommt, sie ist vielleicht schon gegeben.

Die deutsche Situation

Deutschland ist politisch, militärisch, moralisch und ökonomisch vom Nato-Bündnis abhängig. Diese Tatsache diktiert sein Verhalten, es diktiert seine Begründungen und es diktiert seine Diktion bis in Verschleierungen hinein. Klassische Interventionsziele, darunter die Rohstoffsicherung, die die S trategen der Führungsmacht umtreibt, ordnen sich diesem strategischen Faktum vollständig unter. Es handelt sich daher um keine Ziele, sondern dort, wo sie erreichbar erscheinen, um punktuell anfallende Nebeneffekte. Die Idee, eine subimperiale soft skills-Politik à la Münkler zu betreiben, setzt ein interessen- und handlungsstabiles Europa voraus und wird, wenn sie jemals die Führungsetagen gestreift hat, in diesen Tagen zu Grabe getragen.

Wo so vieles das Etikett des Neuen trägt, sollte die neue Ironie der deutschen Lage nicht unter den Tisch fallen – dass geschieht, was nicht geschehen darf, und geschehen muss, was nicht geschehen kann.

a. Deutschland muss den afghanischen Aufbau in seinem Verantwortungsbereich, aber es kann ihn nicht garantieren.

b. Deutschland kann sich zu keiner eigenständigen Politik aus Rücksicht auf die Verbündeten entschließen und läuft, wie die jüngsten Ereignisse zeigen eben deshalb Gefahr, sich als Sündenbock zu isolieren.

c. Deutschland muss, aber kann kein Ausstiegsszenario aus einem Krieg finden, der sich militärisch nicht gewinnen lässt und dessen Fortführung bis zum St. Nimmerleinstag sein Ansehen in der Welt, seine auf internationalen und interkulturellen Ausgleich, auf eine selbständige, verhandlungsfähige Politik der mittleren und eine faire Balance der großen Mächte ausgerichteten Interessen und letztlich seine heimische Demokratie unterminiert.

Sterben für Karsai?

Mit Korruption, Wahlbetrug und andauernder Abhängigkeit von der Anwesenheit fremder Mächte lässt sich ein selbstbewusstes Land nicht gewinnen, noch viel weniger stabilisieren. Diese Binsenweisheit verbindet sich im gegebenen Fall mit der Einsicht, dass die auftragsgemäße Implantierung von Demokratie mit der de facto-Errichtung einer (nicht funktionierenden) Diktatur an ein natürliches Ende gerät. Kommt die späte Einsicht hinzu, dass keine genehmigte Besatzungszeit ausreicht, um in einem vorwiegend ländlich strukturierten, über weite Gebiete in feudalen Loyalitäten lebenden Land die ökonomischen, institutionellen, kulturellen und ethischen Voraussetzungen für den gewünschten Herrschaftstyp zu schaffen, ihre Ausdehnung vielmehr selbst das Erreichbare konterkariert, dann mag man als Erfolg melden, hier und da ein paar Menschenleben auszulöschen, aber das Ganze wirkt über kurz oder lang monoton und es besteht kein Anlass zu feiern – heute nicht, morgen nicht und übermorgen auch nicht.

Ein eliminatorischer, einseitig auf die Zerstörung von Menschenleben ausgerichteter Krieg ist unmenschlich, er dehumanisiert den Gegner und erzeugt dadurch Feindschaften in der Zukunft, die dem eigenen Land und jedem einzelnen seiner Bürger Schaden zufügen können, für die weder eine gegenwärtige noch eine zukünftige Regierung Verantwortung zu übernehmen vermag. Ein Gegner, der nur durch physische Auslöschung zu besiegen ist und nicht besiegt werden kann, muss gehört werden. Dies gebieten die elementaren, dem Eigeninteresse dienenden Gesetze der Anerkennung unter Menschen. Keiner deutschen Regierung steht es zu, eine Politik militärischer Säuberung auf fremdem Boden zu betreiben oder sich an ihr zu beteiligen. Es steht ihr nicht zu, so wie es keiner anderen zusteht: aus keinem anderen Grund. Eine Truppe, die ›gelernt hat‹, ›behutsam‹ zu töten, wo nicht getötet werden muss und also nicht getötet werden darf, dient nicht den Interessen des eigenen Landes.

Es besteht Grund zur Annahme, dass nur der Abschied von einem illusionär und kontraproduktiv gewordenen nation building-Programm und seinen famosen time tables den Interessen Deutschlands, seiner Verbündeten und letztlich Afghanistans dient. Der Gefahr, dass ›Terroristen‹ den Staat übernehmen, kann nicht dadurch begegnet werden, dass die ›fremden Besatzungstruppen‹ letzteren in den Augen der Bevölkerung nach und nach die Legitimation verschaffen, um die sich eine Regierung ohne eigenes Standvermögen mit zweifelhaftem Erfolg und zweifelhaften Mitteln bemüht. Deutschland hat allen Grund, im Kreis der Verbündeten den skeptischen Part zu übernehmen, weil seine Politik vor Ort, der Erfolg seines von Grundgesetz, Mentalität und militärischen Möglichkeiten vorgezeichneten Handlungsmodells die Situation am krassesten beleuchtet. Noch zahlt die hiesige Öffentlichkeit kein propagandistisches Kopfgeld für jeden getöteten Feind, dabei sollte es bleiben.

Die nötigen Mittel

Ammon fragt: »Ist ein Europa, in dem sich dank dem geschichtlichen Reduktionismus der (west-)deutschen Deutungseliten die Funktionseliten des Landes in der Mitte ihrer Geschichtsverantwortung entledigt haben, im Mächtefeld des 21. Jahrhundert noch handlungsfähig?« Der Satz bürdet den Deutschen eine Verantwortung für die europäischen Belange auf, die von seinen ›Eliten‹ so nicht wahrgenommen wird, vielleicht nicht wahrgenommen werden kann, weil sie in die genannten Prozesse selbst zu sehr involviert sind. Er deutet an, dass, genau betrachtet, die deutschen Belange europäische Belange sind und ein Land, das sich in wesentlichen Aspekten seines Selbstverständnisses und seiner Politik der eigenen Stimme enthält, ein Ärgernis bietet. Die gleichermaßen markigen wie verhuschten Formeln, mit denen hierzulande der Afghanistan-Einsatz verteidigt, gerechtfertigt oder befürwortet wird, beleuchten dieses Ärgernis auf einigermaßen grelle Weise. Sie führen Krieg und versuchen, sich nichts dabei zu denken. Man ist aber beleidigt, wenn man von den Verbündeten dafür verhöhnt wird. Dieser Hohn besitzt einen rationalen Kern: er betrifft die fehlende Selbstprüfung der Deutschen, deren Weltverhältnis vornehmlich darauf beruht, dass man sich nichts vorzuwerfen hat – im Kreise der Alliierten nicht und nicht am häuslichen Kamin. Das afghanische Engagement hat sie an die Schwelle des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen geführt – da liegen sie nun als getreue Hofhunde, die aufpassen, dass an der Durchführung der Resulutionen 1386,1413, 1444, 1510, 1563 und so weiter und so weiter, an deren Zustandekommen sie nur peripher beteiligt waren und nur peripher oder gar nicht beteiligt sind, nicht gerüttelt und gedeutelt wird. Als geostrategisches Schwellenland hat dieses Deutschland alle Aussichten, die Rolle der Türkei in Europa gegenüber den Weltmächten zu übernehmen: gelockt, gescheitert, eingebunden, ausgeschlossen, beitragswillig und auf kommende Konstellationen verwiesen.

Das muss nicht so bleiben. »Acting ... under Chapter VII of the Charter of the United Nations ... Authorizes the Member States participating in the International Security Assistance Force to take all necessary measures to fulfill its mandate« heißt es z. B. in Resolution 1623 des Sicherheitsrates – eine Routineformel, gewiss, aber auch ein unübersehbarer Hinweis. Der Sinn der Formel »all necessary measures« erschöpft sich nicht in der Umsetzung einmal gefasster Beschlüsse mit ihrem Mehr oder Weniger an militärischen und zivilen Komponenten. Er setzt die Analyse dessen, was zu leisten ist und zu leisten wäre inclusive dessen, was in den überschießenden Bereich eigen- oder fremdkulturellen Wünschens gehört, zu jedem Zeitpunkt und auf allen Etagen voraus. Jedenfalls sollte es sie nicht ausschließen.