von Herbert Ammon

I.

In den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhundert, im Jahrzehnt nach dem Mauerfall, erlebte die Welt – theoretisch inspiriert und überhöht von neoliberaler Doktrin – den Siegeszug der ökonomischen Globalisierung. Unter der Ägide der KP vollzog China den Aufstieg zur weltweit zweitstärksten Wirtschaftsmacht. Im Gefolge einer radikalliberalen Schocktherapie fiel das postsowjetische Russland in die Hände der Oligarchen. Die sich in China maßlos verschuldenden USA zielten – auf der Basis des nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA – auf einen global liberalisierten Weltmarkt. Parallel dazu setzten massive Flucht- und/oder Migrationsbewegungen aus dem »globalen Süden« in die Wohlstandszonen des Nordens ein.

Den ideologischen Überbau der ökonomischen Entgrenzung lieferte der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama mit der Proklamation des »Endes der Geschichte« und der weltweiten Durchsetzung der liberalen Demokratie samt dem Impetus der universalen Menschenrechte. Das kritische Pendant zu dieser optimistischen Weltsicht – die Fukuyama alsbald selbst zu revidieren genötigt war –, formulierte der Historiker Samuel Huntington mit seiner Warnung vor einem »Zusammenprall der Kulturen« (The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, 1993). Wenngleich in seiner historisch-kulturell fundierten Diagnose von der Realität – die Nahostkriege, der blutige Zerfall Jugoslawiens, die 9/11-Anschläge sowie Afghanistan – bestätigt, erntete der vermeintliche Kulturpessimist Huntington seitens des progressiv-liberalen Establishments nichts als moralische Entrüstung.

Im Horizont eines »wertebasierten« Liberalismus haben kulturelle Differenzen – sofern sie das säkulare Postulat universeller Gleichheit in Frage stellen könnten – keinen Platz. Unter grünem Vorzeichen gilt auch hierzulande der – in der westlichen Kulturtradition verwurzelte – Universalismus als die einzig gültige politische Richtschnur. Derzeit werden – in der einmütigen Parteinahme für die Ukraine gegen den großrussischen Aggressor Putin – die universalen Werte der westlichen Demokratie hochgehalten, ungeachtet der Tatsache, dass in der Ukraine auch nationalistische Momente im Spiel sind.

II.

Vor diesem Hintergrund legt der bis 2020 an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen lehrende Heinz Theisen ein Buch vor, in dem er dem Globalismus als Praxis und dem »Globalismus als neue Weltanschauung« (97-102) eine Absage erteilt. Die globalistischen Kräfte sieht er auf dreifache Weise wirksam: als ökonomischen Globalismus, als politisch-militärischen Interventionismus sowie als humanitären Universalismus. Seine Kritik an den – in Deutschland als »National-Globalismus« samt »Willkommenskultur« praktizierten – globalistischen Konzepten gründet er zum einen auf die Evidenz der Fakten, zum anderen auf die inneren Widersprüche der universalistischen Ideologie.

Mit seiner staatskapitalistisch betriebenen Modernisierung spielte China von Anbeginn eine höchst eigene »universalistische« Rolle, die indes als globale Machtprojektion von vielen erst angesichts von Xi Jinpings Konzept der »Seidenstraße« erkannt wurde. Die Risse im ökonomischen Netz des Globalismus waren schon frühzeitig in der durch outsourcing verursachten Vernichtung von industriellen Arbeitsplätzen zu erkennen. Heute treten sie auch in Gestalt einer beruflich ungesicherten Gruppe im Dienstleistungssektor (»Dienstleistungsprekariat«) hervor. Die Verheißungen eines staatsfernen, globalen Fortschritt, Glück und Wohlstand hervorbringenden neoliberalen Weltmarktes zerbrechen an den während der Corona-Pandemie unterbrochenen Lieferketten, ganz abgesehen von der von Putins Krieg ausgelösten Energiekrise.

Dass unter dem Deckmantel freien Welthandels stets auch politische Interessen – keineswegs allein deutsche – Interessen verborgen liegen, wurde durch Krise und Krieg um die Ukraine evident. Zu Recht verweist Theisen auf Afghanistan als Beispiel dafür, wie die Überdehnung politisch-militärischer – im Hinblick auf die am Hindukusch versenkte Billion Dollar auch ökonomischer – Möglichkeiten, hohe moralische Ansprüche sowie bis dato alle Konzepte von »nation-building« unter demokratischen Vorzeichen an der komplexen Wirklichkeit scheiterten.

Am offensichtlichsten, wenngleich von den Protagonisten negiert, tritt die Widersprüchlichkeit des ideologischen Universalismus in der Unvereinbarkeit des »woken« Kulturrelativismus, sprich: die behauptete Gleichwertigkeit aller Kulturen in den Proklamationen von »Identität« sowie in dem von denselben »Kulturlinken« mit gleicher Emphase verfochtenen Menschenrechtsuniversalismus hervor. Politische Schlagkraft gewinnt derlei Ideologie, in Frankreich bekannt als islamogauchisme, im Bündnis von religionsfeindlichen Linken mit islamischen Kräften.

Theisen verweist auf das Zusammenspiel der global operierenden Großkonzerne mit ehedem kapitalismuskritischen Linksliberalen, insbesondere mit den grünlinken Nachfahren der 1968er Neuen Linken. Bereits für Herbert Marcuse und dessen Adepten hatte die Arbeiterklasse ihren Charme als Subjekt universeller Emanzipation eingebüßt. Heute verleihen die jüngsten »linken« Progressisten, nicht nur die Grünen als dominierende politische Kraft, mit humanitären Parolen, mit Doktrinen wie Multikulturalismus, diversity und »offene Grenzen« den Mechanismen neoliberaler Ökonomie ideologischen Glanz.

Damit einher geht die Beschwörung der die Menschheit bedrohenden Klimakatastrophe. Für die große Mehrheit der Klimaretter – die radikalsten, anzutreffen bei »Extinction Rebellion«, streben vermittels des Kampfes gegen CO2-Emissionen den Umsturz des von »weißen Männern« getragenen kapitalistischen Systems an – fungiert die Ankündigung der Klimaapokalypse als Ersatzreligion. Allgemein ersetzt und erfüllt im säkularen Westen – nach Erosion der Kirchen und Schwinden der christlichen Glaubensinhalte – Moral die psychisch fortwirkenden religiösen Bedürfnisse.

Mit der Beschreibung der Dialektik von globalistischer Ökonomie und grünlinker Moral liegt Theisen zweifellos richtig. Weniger überzeugend wirkt seine Argumentation, wenn er im Hinblick auf die globalistisch fundierte Postmoderne von einer Synthese von Liberalismus und Sozialismus spricht, sodann jedoch die »Gespenster des Sozialismus« heraufziehen sieht. Er argumentiert zudem nicht widerspruchsfrei, wenn er einerseits Erdogan als »lange verdeckt operierenden Muslimbruder« (57) bezeichnet, aber meint, »wir können mit quietistischen, nach innen gekehrten Salafisten und primär sozial agierenden Muslimbrüdern in Koexistenz leben.« (263)

Für die Integration der zusehends heterogenen deutschen und westeuropäischen Gesellschaft verzichtet Theisen auf eine »Leitkultur«, will stattdessen an – von der Verfassung vorgegebenen – »Leitstrukturen« festhalten. (190). An anderer Stelle vermerkt er indes, dass in Israel 75 Prozent der Bürger, »jüdisch und ... der jüdischen Leitkultur verpflichtet« seien. (216) Den Nationalstaat betrachtet er als politisch-sozialen Schutzraum der schwächeren Bevölkerungsgruppen als unverzichtbar. Andererseits klingt es nach geistiger Nähe zu den zu Recht abgelehnten (De-)Konstruktivisten, wo es heißt, »das Narrativ der Herkunft kann durch die Prägung neuer Narrative relativiert werden, sodass auch der multinationale Staat gedeihen kann.« (307)

Die Hauptgefahren für Europa – als Begriff erscheint auch das »Abendland« – sieht Theisen zum einen im totalitären System und Selbstverständnis der alten, neuen Weltmacht China, zum anderen im Vordringen eines voraufklärerischen Islams, dem unter dem Leitbild der umma die für die Freiheitstradition des Westen grundlegende Trennung von Kirche und Staat, von geistlicher und weltlicher Sphäre, wesensfremd ist. Entsprechend fordert er gegenüber dem unvermindert anhaltenden Migrationsdruck aus dem islamischen Raum sowie aus Afrika eine differenzierende, effektiv gesteuerte Einwanderungspolitik. Nicht nur in diesen Punkten unterscheidet sich Theisen, der an der »anthropologischen Weisheit des Christentums« festhält und seine Kritik an globalistischen – und EU-technokratischen – Konzepten auf das Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre gründet, von der alle Welt umarmende Botschaften des Papstes Franziskus (»Fratelli tutti«).

III.

Theisen plädiert für eine kulturelle Selbstbesinnung des »globalen Westens« (in den er unter politisch-ökonomischen Aspekten auch Südkorea und Japan einbezieht), für einen gemäßigten Protektionismus gegenüber dem ökonomischen Globalismus sowie – gegenüber den verfehlten Konzepten des Demokratieexports – für eine verantwortungsvolle Selbstbeschränkung im Politischen. Sein Konzept gründet auf abwehrbereiter Koexistenz mit den real unterschiedlichen Kulturen sowie – im Hinblick auf die Vielzahl autoritärer Staatsgebilde – auf einer »Realpolitik des kleineren Übels« (270).

Mit Bedacht ist dem Buch ein Zitat von Hannah Arendt vorangestellt, die die größte Gefahr in der Moderne in »dem Verlust an Wirklichkeit« erkannte. Es steht zu befürchten, dass auch die vorliegende Warnung vor den Fallgruben eines moralisch aufgeladenen Universalismus von denen, an die sie adressiert ist, überhört wird. Auf vehemente Ablehnung werden Theisens Ausführungen zum Ukraine-Krieg stoßen, wo er die Mitschuld Kiews durch Verletzung des Minsker Abkommens von 2014 sowie den 2019 zum Verfassungsgebot erhobenen NATO-Beitritt benennt. Mehr noch: Die Ukraine sei vom Westen aus ihrer »geopolitisch gebotenen Neutralität« heraus in eine Falle gelockt worden. (351) Im Anschluss an Henry Kissingers Konzept einer »Westfälischen Weltordnung« akzeptiert der Autor nicht nur die »amoralische« Realität von Einflusssphären, sondern hofft auch angesichts von Putins Krieg noch auf ein Arrangement mit Russland. (257f.)

Mit der Strategie der »Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung«, glaubt Theisen über ein Konzept zu verfügen, in dem die alten Lagerbegriffe Links und Rechts aufgehoben sind. Inwieweit dazu die folgenden Sätze am Ende seines Buches beitragen, steht dahin: »Die überkommene Polarisierung von ›Links‹ und ›Rechts‹ wird der Wiederkehr des internationalen Freund-Feind-Denkens weichen. Die ›toxischen‹ männlichen Werte sollten wieder an Bedeutung gewinnen. Eine ›feministische Außenpolitik‹, die etwa männliche Kriegsopfer für nachrangig erklärt, dürfte angesichts der Geschehnisse in der Ukraine nicht mehr ernst genommen werden.« (358)

Geht es dem Autor – eine Straffung des Materials sowie ein Register hätten dem Buch gutgetan – um einen Aufruf zu nüchterner Selbstbesinnung, so macht er es mit derlei Aussagen – sowie mit polemischen Pointierungen wie »Demokratie als Gesinnungsoligarchie« (86, 142-152) oder »die exekutivisch regierende EU-Oligarchie« (147) – dem linksliberalen Mainstream leicht. Anstelle einer kritischen Rezeption dürften Theisens Thesen weithin ignoriert oder als »rechts« abgetan werden.

Debatte

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