von Ulrich Horb

Im Alter von nur 54 Jahren starb am 10. September 1942 der letzte Bezirksvorsitzende der Berliner SPD, Franz Künstler, an den Folgen von KZ-Inhaftierungen und der von den Nazis verhängten Zwangsarbeit. Inmitten der Kriegszeit begleitete eine eindrucksvolle Menschenmenge – Zeitzeugen berichten von 1000 bis 3000 Berliner Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten – den Trauerzug. Das Leben des linken Sozialisten und Gewerkschafters, der seinen Überzeugungen auch unter schwierigen Bedingungen treu geblieben ist, ist jetzt von der Historikerin Ingrid Fricke in einer ausführlichen und anschaulichen Biographie beschrieben worden.

 

Franz Künstlers Leben und sein politisches und gewerkschaftliches Engagement wurde von Auseinandersetzungen geprägt – vom Kampf für Demokratie und gegen Militarismus während des Kaiserreichs und der Zeit des 1. Weltkriegs, vom Kampf für Freiheit und den Erhalt der Demokratie während der Weimarer Zeit, vom Kampf gegen Unterdrückung und einen neuen Krieg während des Nationalsozialismus. Künstler erlebte drei unterschiedliche Systeme, er engagierte sich als Sozialist zunächst in der SPD, dann als Kriegsgegner in der USPD, schließlich als Demokrat erneut in der SPD. Es ist ein ganz besonderer linker Lebenslauf, geprägt von den Umständen seiner Zeit.

Es gibt nicht viele erhaltene Dokumente, die Franz Künstlers Denken und Handeln dokumentieren, keine Tagebuchaufzeichnungen oder persönlichen Notizen. In der Friedrich-Ebert-Stiftung sind 14 Mappen zu finden, ein Stapel von etwa 20 Zentimetern. So hat Ingrid Fricke vor allem Zeitungen und Zeitschriften, Sitzungs- und Parteitagsprotokolle ausgewertet. Trotz dieser schwierigen Quellenlage entsteht ein informatives Bild von Franz Künstler in seiner Zeit, eines Sozialisten mit festen Überzeugungen und klaren Vorstellungen von Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie, die ihn auch zweimal zum Wechsel der Partei veranlassen.

Franz Künstler, 1888 geboren, aufgewachsen im proletarischen Kreuzberger Südosten, begann mit vierzehn Jahren seine Ausbildung zum Maschinenschlosser und engagierte sich frühzeitig in der Arbeiterjugendbewegung. Er hielt Vorträge über die Revolution von 1848, Wissen, das er sich, so Ingrid Fricke, „höchstwahrscheinlich im Selbststudium aneignete“. Und er sang im Gesangsverein „Jugend“ mit. 1906, als er seine Lehre abgeschlossen hatte, wurde er Mitglied im Deutschen Metallarbeiterverband DMV.

Als Kriegsgegner im Kriegsdienst

„Freiheitlich und antimilitarisch“, so beschreibt Ingrid Fricke den jungen Franz Künstler, der 1907 der SPD beitrat. Wie er den Beginn des Weltkriegs erlebte, ist nicht belegbar, erst für die Zeit ab 1916 gibt es Quellen, die ihn im Lager der Kriegsgegner zeigen, die gegen die weitere Bewilligung der Kriegskredite und den Burgfrieden eintreten. Er übernimmt Funktionen im Ortsverein Neukölln und im Wahlkreisverein Teltow-Beeskow, nimmt an der illegalen Antikriegskundgebung teil, zu der der Spartacusbund am 1. Mai 1916 aufruft. Künstler wird zum Kriegsdienst einberufen, wohl auch, weil solche Versammlungen von der Obrigkeit observiert werden, und ihre Teilnehmer damit ruhiggestellt werden können..

Für die Sozialdemokratie wird die Unterstützung des Kriegskurses durch die Mehrheit der Fraktion zur Zerreißprobe, 1917 schließt sich Franz Künstler der neu gegründeten USPD an. Im November 1918 ist Künstler Soldatenrat. Er begrüßt die Unterstützung der USPD für das Rätesystem, beteiligt sich aber selbst auch als Kandidat am parlamentarischen System. In den kommenden Jahren wird er Stadtverordneter und später ist er – fast ununterbrochen – Reichstagsabgeordneter. Als Angestellter des DMV erlebt er – wie auch in der USPD – die zunehmenden Richtungskämpfe in der Arbeiterbewegung. Während ein Teil der USPD sich der kommunistischen Internationale annähert, geht Franz Künstler diesen Weg wegen des Verlustes der Eigenständigkeit und innerparteilichen Demokratie nicht mit.

Franz Künstler wird zwar, wie Ingrid Fricke es beschreibt, kein Vorreiter der Annäherung an die Mehrheitssozialdemokratie. Aber die Entwicklung in Russland und die Politik der KPD ließen die Kommunisten immer weniger zum Bündnispartner werden. Als mit dem Mord an Außenminister Rathenau die Bedrohung der jungen Republik durch rechtsextreme und reaktionäre Kräfte spürbar wurde, dürfte das, so vermutet Ingrid Fricke, für Künstler den Ausschlag gegeben haben, mit der Rest-USPD zur SPD zurückzukehren. Berlin wurde mit den ehemaligen USPD-Mitgliedern ein starker linker Bezirksverband, den Franz Künstler als Vorsitzender erfolgreich durch die schwierigen Jahre von 1923 bis 1933 führte. Als Berliner Vorsitzender führte er zudem an vorderster Front die Auseinandersetzung mit Nazis und KPD. Nach dem durch die Inflation bedingten Einbruch der Mitgliederzahlen gelang es ihm bis Ende 1931 wieder, die Vorkriegsstärke der Berliner SPD zu erreichen. Bei den Wahlen zwischen Dezember 1924 und November 1929 und bei den preußischen Landtagswahlen 1932 wurde Künstlers SPD zur stärksten Kraft.

Als Redner erlebte Künstler am eigenen Leib, wie Stoßtrupps der KPD Versammlungen der SPD zu sprengen versuchten. Eine Zusammenarbeit scheiterte am mangelnden Vertrauen, für das die KPD immer wieder Anlässe lieferte. 1932 lehnte die KPD schließlich das auch von Künstler unterbreitete Angebot eines „Burgfriedens“ ab. Künstler blieb in Berlin, als die Nationalsozialisten die Macht übernommen haben und kritisierte zunächst auch die Sozialdemokraten, die ins Ausland flüchteten. „Soll aber die Partei erhalten bleiben, dann, so wünschen es die Berliner Genossen, müssen Führer und Masse auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden bleiben“, zitiert Ingrid Fricke aus einem Brief Künstlers an den in Schweiz geflüchteten Reichstagsabgeordneten Arthur Crispien vom März 1933.

Künstler hielt wohl noch bis zum Parteiverbot an der Vorstellung fest, dass es der SPD „durch ein strikt legales Verhalten auf der einen Seite und ein mutiges und geschlossenes Auftreten auf der anderen Seite gelingen könne, eine legale Existenz zu behaupten“, wie Ingrid Fricke es beschreibt. Wohl von diesem Motiv getrieben, drohte Franz Künstlern im April 1933 der Führung der Berliner Jugendorganisation SAJ, die sich auf die Illegalität vorbereitete und ihre Gelder dafür beiseite schaffte, und sorgte schließlich mit für deren Ausschluss.

Nüchterne, sachliche und nur schrittweise zu Erfolgen führende Politik

Am 26. April fand in Berlin eine Reichskonferenz der SPD statt, auf der Künstler als Beisitzer in den Parteivorstand gewählt wurde. Auf dieser Versammlung benannte der Vorsitzende Otto Wels als eine Ursache für die Niederlage der Arbeiterbewegung deren Spaltung. Aber er macht, darauf weist Ingrid Fricke hin, auch die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise mit ihrer Massenarbeitslosigkeit verantwortlich. Ein großer Teil der leidenden Menschen konnte „für unsere nüchterne, sachliche, nur schrittweise zu Erfolgen führende Politik kein Verständnis gewinnen“. Verfolgung und Unterdrückung der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ließen auch Künstler die Emigration führender Mitglieder des Vorstands zunächst akzeptieren.

Er selbst folgte dem Beispiel nicht, kandidierte im Juni 1933 für ein sechsköpfiges „Direktorium“, das in Abgrenzung zum Prager Exil-Vorstand die Parteispitze in Deutschland repräsentieren sollte. Das Direktorium trat am 21. Juni zusammen und beschloss u.a., Mit der Regierung über die Freilassung politischer Gefangener zu verhandeln. Das erwies sich als Illusion, drei Tage später wurde Franz Künstler verhaftet. Er kam in eine Massenzelle am Alexanderplatz mit zahlreichen Kommunisten, die ihn heftig verbal angriffen, so dass Künstler eine Verlegung einforderte. Er kam nach Spandau, von dort ins KZ Oranienburg. Künstler musste Straßenfegerarbeiten, schwere Erd- und Forstarbeiten und andere Zwangsarbeit verrichten.

Nach seiner Entlassung war seine Gesundheit schwer geschädigt und er stand zudem unter Beobachtung. So konnte er – entgegen früheren Darstellungen – auch keine führende Rolle mehr in der illegalen Berliner Parteiführung einnehmen. Dennoch hat er persönlich viele Kontakte gehalten und den Zusammenhalt der Berliner Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten gestärkt.

Ingrid Fricke entwirft das Bild eines pragmatischen Linken, der für die ganz konkrete Verbesserung des Alltags der Arbeiter kämpfte, dabei seinen Grundüberzeugungen treu blieb. Sie zeigt ihn in seiner Zeit und stellt die wesentlichen Auseinandersetzungen jener Jahre dar. So wird die Biographie auch zu einem Stück Geschichtsschreibung der Berliner Arbeiterbewegung.

Ingrid Fricke, Franz Künstler (1888–1942) Eine politische Biographie, erschienen in der Reihe Berliner Beiträge zur Ideen- und Zeitgeschichte, Verlag für Berlin-Brandenburg, 480 Seiten, 29,99 Euro, ISBN/EAN: 9783945256466