von Peter Brandt

 Wer erinnert sich bei dieser Frage nicht an die beiden zentralen Parolen, die die demokratische Umwälzung in der DDR 1989/90, die friedliche Revolution, begleiteten und – in zwei Etappen – deren Stoßrichtung ausdrückten? ›Wir sind das Volk!‹ bestritt den Regierenden das Recht, für dasselbe zu sprechen und in seinem Namen zu handeln.

Das reale Staatsvolk der DDR forderte Selbstbestimmung ein, konstituierte sich gewissermaßen erstmals als politisches Volk, als Demos, wobei es anfangs so scheinen konnte, es ginge ihm eher um die Inbesitznahme des angeblichen Volkseigentums als um dessen Abschaffung. Jedenfalls war die Stoßrichtung der Bewegung zunächst auf die innere Demokratisierung des ostdeutschen Separatstaats gerichtet.

Mit der Maueröffnung am 9./10. November 1989 und mit dem Hinzutreten immer breiterer Schichten, gerade aus der Arbeiterschaft der südlichen Bezirke, fand die neue Losung ›Wir sind ein Volk!‹, schnell Verbreitung, begleitet von Deutschland, einig Vaterland, der Liedzeile der wegen seiner gesamtdeutschen Bezüge seit fast zwei Jahrzehnten nur noch in der Instrumentalversion verwendeten DDR-Hymne. Das war die Anrufung der deutschen Teilungsproblematik, der Ausdruck des Wunsches nach Einheit: das Volk als ethnisch-kulturelle Gemeinschaft über willkürlich gezogene Grenzen hinweg. – Und auch die dritte hier relevante Bedeutung von ›Volk‹, die Volksmassen gegen die Elite, wie sie in allen Revolutionen als Akteure in Erscheinung traten, gegen die Oberen, die Unterdrücker, die Privilegierten, ist unverkennbar präsent gewesen, in kaum lösbarer Verbindung mit den anderen Bedeutungsvarianten.

Wenn wir die Entwicklung der Begrifflichkeit von ›Volk‹ zurückverfolgen, was für Historiker als Annäherung an das Problem nahe liegt, finden wir schon in der klassischen Antike die Unterscheidung – so im Lateinischen – von populus, gens oder natio und plebs. Im Mittelalter wurde die für die Feudalgesellschaft ganz unpassende Terminologie von der Staatsrechtslehre mitgeschleppt, doch erst im Übergang zur Moderne, im 18. Jahrhundert, erhielt sie wieder einen Realitätsbezug, als die wirtschaftlich-sozialen und politischen Transformationsvorgänge hin zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und zum Verfassungsstaat ihren Anfang nahmen.

Die Begrifflichkeit um das Volk lässt sich für alle europäischen Sprachen nachzeichnen. ›Wir sind das Volk!‹ ist z.B. ein unbewusstes Zitat aus der radikal-demokratischen, überwiegend schon proletarischen Stimmrechtsbewegung der 1830er Jahre in Großbritannien: ›We are the people‹! Das Volk als politischer Souverän tauchte erstmals im Unabhängigkeitskrieg der nordamerikanischen Siedlerkolonien auf, als aus dem Volk der Einzelstaaten dann handstreichartig das der USA wurde (›We the people of the United States …‹), und dann in der Französischen Revolution. Die Sprecher des Dritten Standes definierten das Volk sozial umfassend und gleichzeitig die parasitären oberen Stände ausgrenzend: 25 Millionen gegen 25.000, wie es in der berühmten Programmschrift des Abbé Sieyès heißt. Aristokraten und Klerikern blieb die Wahl, auf ihre Vorrechte zu verzichten und sich der egalitären Staatsbürgernation hinzuzugesellen. Dabei bereitete der Widerspruch dieser Idee zur Unterscheidung von Aktiv- und Passivbürgern (von der politischen Rechtlosigkeit der Frauen ganz abgesehen) den Abgeordneten der Nationalversammlung anfangs wenig Kopfzerbrechen. Auch für die europäischen Liberalen außerhalb Frankreichs zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gilt, dass sie das eigentliche, zur Wahrnehmung politischer Verantwortung fähige Volk nach Eigentums- und Bildungskriterien eingrenzten, denn nur der sozial und geistig selbstständige Mann sei imstande, selbstständig zu urteilen. Daneben wurde die frühneuzeitliche Wortbedeutung im abfälligen Sinn von unteren Volksschichten bzw. Pöbel weiter tradiert.

Bleiben wir im Folgenden bei Deutschland und konzentrieren uns auf diejenigen Perioden, in denen der Volksbegriff seine Konturen erhielt oder um neue Aspekte erweitert wurde. Zuvor aber die Feststellung, dass, wie in manchen anderen Ländern auch, ›Volk‹ und ›Nation‹ in ihren unterschiedlichen Bedeutungen vielfach synonym gebraucht wurden und werden. Allerdings kennt die ›Nation‹ nicht oder kaum die soziale Dimension des ›Volkes‹. Versuche im Verlauf des 19. Jahrhunderts, Volk und Nation begrifflich zu trennen, gingen in gegensätzliche Richtungen und konnten sich auch deshalb nicht durchsetzen.

Die konzeptionelle und begriffliche Konjunktur des ›Volkes‹ in Deutschland wurde angestoßen durch die Französische Revolution: in einem direkten Sinn als Übertragung von ›peuple‹ und ›nation‹ ins Deutsche, teils in dialektischer Reaktion auf die Revolution und die napoleonische Vorherrschaft.

Nachdem sich kulturnationales Denken schon seit Mitte des 18. Jahrhunderts sukzessive in der Bildungsschicht Deutschlands verbreitet hatte, gewann die politische Nationalidee unter Berufung auf das Volk in dialektischer Auseinandersetzung mit der napoleonischen Hegemonie ab 1806 ideologisch feste Formen und eindeutige Bezugspunkte. Große Teile des Gedankengebäudes stammten aus den patriotischen Schriften des 18. Jahrhunderts, und seine schnelle Rezeption unter den Gebildeten war nur dadurch möglich. Neu waren die Verknüpfung der verschiedenen Elemente und ihre Konzentration auf einen Punkt: Die Volkwerdung der Deutschen unter dem Druck einer Fremdherrschaft, die nicht nur aus ökonomischen und politischen, sondern vor allem aus kulturellen Gründen als bedrohlich, auch für die eigenen Werte und Lebensformen, empfunden wurde. Die teilweise bis ins Groteske gesteigerte Deutschtümelei einiger Nationalpatrioten ist in dieser Periode letztlich daraus zu erklären.

Die Radikalisierung und Politisierung des kulturnationalen Denkens und des national orientierten Patriotismus in den Jahren nach 1806 war in der Selbstinterpretation ihrer Betreiber ein defensiver Akt. Es galt zu hindern, dass »ein Volk seine Eigenthümlichkeit verläßt« und, »mißkennend seine innere Natur, in fremde Kreise hinübertaumelt«, wie Joseph von Görres 1810 formulierte. Dabei ging es dem Selbstverständnis der Beteiligten nach zunächst und zuerst um die Veränderung des Bewusstseins und Verhaltens und erst in zweiter Linie um institutionelle Um- oder Neugestaltung in der staatlichen (bzw. zwischenstaatlichen) und gesellschaftlichen Sphäre.

Allein im nationalen Volk und auf dessen Grundlage als Mittler zwischen Individuum und Menschheit könne der Einzelne für das Wohl der Menschheit wirken. Neu war die, wenn auch zunächst nur vereinzelt erhobene Forderung nach der Einheit von Volk und Staat im ›Volksstaat‹ (=Nationalstaat). Dieser sollte zwar nicht nach Modellen schematischer Vernunft, sondern gemäß der Eigenart der Deutschen und ihrer historischen Traditionen geformt werden, doch ergab sich auch daraus eine Frontstellung gegen Absolutismus, Kleinstaaterei und Feudalismus, die Befürwortung des Rechtsstaats und irgendeiner Art von Verfassungsstaat mit gewählten legislativen Körperschaften, meist als konstitutionelle Monarchie gedacht.

Es waren Männer wie der Philosoph Fichte, der Theologe Schleiermacher, der Historiker Luden, der als ›Turnvater‹ bekannte Jahn und der Publizist Ernst Moritz Arndt, die im Vorfeld der antinapoleonischen Befreiungskriege und währenddessen das neue Volks- und Nationsdenken propagierten, und von Arndt stammen einige der wüstesten Hasstiraden nicht allein gegen den ›Despoten‹ Napoleon und sein System, sondern gegen die Franzosen schlechthin, Äußerungen, von denen er eine mobilisierende Wirkung erwartete.

In Arndts Pamphleten wurde mit der Aufstachelung gegen die fremden Unterdrücker indessen noch etwas anderes verkündet: die Majestät des Volkes nach innen, gegenüber seinen einheimischen Herrschern. Das Volk sei nicht da, damit es Fürsten gebe, sondern diese seien nur da »als Diener und Beamte des Volkes, und dass sie aufhören müssen, sobald das Volk ihrer nicht mehr bedarf, oder sobald sie sogar das Verderben dieses Volkes sind«. Das ethnische Volk wurde von Arndt also gleichzeitig als Demos gedacht, wie über die folgenden Jahrzehnte implizit auch bei vielen Anderen.

Die hier skizzierte Strömung als politische Romantik zu charakterisieren, führt eher in die Irre – auch wenn insbesondere die Heidelberger Romantik (Des Knaben Wunderhorn) zusammen mit der in dieser Periode auch anderswo intensivierten Sammlung von Volksliedern, Märchen und Sagen sowie dem Interesse für die germanische und hochmittelalterliche Vergangenheit in unseren Zusammenhang gehören. – Zumindest ein Teil der Romantiker im engeren Sinn wurde dann zu Stichwortgebern antiliberaler, antireformerischer Strömungen.

Bekanntlich setzten sich nach 1813 nicht die hier zitierten Volkstümler durch, sondern die etablierten monarchischen Mächte. Doch das waren nicht mehr einfach die Staaten des Ancien Régime. Unter dem Einfluss der napoleonischen Revolution von außen hatten wichtige Staats- und Gesellschaftsreformen stattgefunden; der preußische König hatte mehrfach ein Verfassungsversprechen abgegeben, das er unter dem Druck reaktionärer Hofkreise und des österreichischen Staatskanzlers Metternich nicht erfüllte, und doch hatte sich das Verhältnis zwischen Herrscher und Volk, zumindest symbolisch, aus einem reinen Untertanenverhältnis in ein eher dialogisches gewandelt. Der von einem Reformbeamten formulierte königliche Aufruf An mein Volk vom 17. März 1813 dokumentiert die neue Art der Ansprache. Die Berufung auf den vermeintlichen Volkskrieg von 1813/14, den Geist von 1813, bildete seitdem eine legitimierende Formel für die Forderung nach politischer Partizipation.

In der Lyrik der Befreiungskriege dominierten noch patriotische Bekenntnisse, die sich auf den Einzelstaat bezogen, den gemeindeutschen Nationalpatriotismus; teilweise – insbesondere beim preußischen Staatspatriotismus – ging beides Hand in Hand. Ähnliches gilt für die politische Publizistik. Auch nach dem Wiener Kongress 1814/15 dachte die ganz überwiegende Zahl der Autoren unterschiedlicher politischer Richtungen nicht an einen unitarischen deutschen Volksstaat, sondern eher an eine sich sukzessive annähernde ›teutsche Völkerfamilie‹ auf dem Weg der Vereinbarung der jeweiligen Fürsten mit ›ihren Völkern‹; der Volksbegriff wurde noch lange parallel für die Gesamtheit aller Deutschen wie für separate deutsche ›Völker‹ benutzt, auch dort mit kulturellen und Stammesbezügen. Als in den frühen 1820er Jahren die gegenreformerischen Bestrebungen im Deutschen Bund und den wichtigsten Einzelstaaten übermächtig wurden, geriet der Wunsch nach der Einheit Deutschlands mehr und mehr in einen Gegensatz zur Verbundenheit mit den Einzelstaaten. Das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelte sich in dem Maß zum Sprengsatz für diese, wie sie die mit den süd- und mitteldeutschen Verfassungsgebungen der Jahre 1814 bis 1820 ausgelösten Erwartungen nicht befriedigen konnten und die Hauptmächte Österreich und Preußen den Schritt zur Konstitutionalisierung gar nicht erst gingen.

In den 1830er und 1840er Jahren wurde aus den liberal-nationalen und national-demokratischen Oppositionsströmungen des Bildungsbürgertums eine Massenbewegung, die sich dann auch teilweise mit sozialem Protest der Unterschichten verband und in die Revolution von 1848/49 mündete. Diese fand unter der doppelten Zielsetzung von Einheit und Freiheit statt und scheiterte nicht zuletzt an der Schwierigkeit, beides gleichzeitig in der erforderlichen politischen Breite durchzusetzen.

Die Ereignisse von 1848/49 in Deutschland waren Teil eines gesamteuropäischen Geschehens und machten deutlich, wie schwierig es auch für verfassungs- und gesellschaftspolitisch sich Nahestehende war, über die staatlich-nationalen Grenzen hinweg konsensuale Lösungen für Nationalitätenprobleme zu finden. Dabei hatte sich unter der repressiven Ordnung des Wiener Kongresses namentlich im Einsatz für den Freiheitskampf der Griechen ab 1821 und den polnischen Aufstand von 1830/31 so etwas wie ein Internationalismus der Nationalbewegungen herausgebildet. Anstelle der damals beschworenen ›europäischen Völkerfamilie‹ meldete sich 1848 sogleich der – so der Paulskirchenabgeordnete Wilhelm Jordan – »gesunde Volksegoismus« mit der Beschwörung des »Rechts des Stärkeren« zu Wort; es ging damals in der Deutschen Nationalversammlung um Autonomierechte der polnischen Minderheit bzw. deren Verweigerung in der preußischen Provinz Posen, die dort die Mehrheit bildete.

Weder in der nicht verwirklichten Paulskirchenverfassung von 1849 noch in der Reichsverfassung von 1871 hatte das Volk semantisch einen prominenten Platz. Während 1849 die Parlamentarier der Zweiten Kammer (›Volkshaus‹) als ›Abgeordnete des deutschen Volkes‹ bezeichnet wurden (§ 93) und das ›deutsche Volk‹ als Ensemble der Einwohner der zum Deutschen Reich vereinigten Einzelstaaten definiert wurde (§ 131), beschränkte sich die Anwesenheit des Volkes 1871 auf die indirekte Erwähnung in der Präambel, der zufolge die Fürsten einen »ewigen Bund zum Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechtes sowie zur Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes« schlossen. De facto war die Reichsgründung eher eine Resultante aus Bismarcks großpreußischer Machtpolitik und der bürgerlich-liberalen Nationalbewegung sowie einem über Jahrzehnte vorbereitenden wirtschaftlichen und kulturellen Nationsbildungsprozess.

Die Voraussetzung für die auch in anderen Ländern zu beobachtende Verschiebung der Deutungsmacht im Hinblick auf das Begriffsfeld von Volk und Nation von ›links‹ nach ›rechts‹ war die Öffnung des Konservatismus zur Realität des 1871 entstandenen Nationalstaats (auch wenn die Bewahrung der einzelstaatlichen Befugnisse und Identitäten, namentlich in Preußen, ein wichtiges Anliegen blieb) und der bürgerlichen Gesellschaft (auch wenn großagrarische Interessen gesellschaftspolitisch hochrangig blieben). Anders als die ursprünglich teilweise als revolutionär abgelehnte, nun aber adoptierte ›Nation‹ blieb das ›Volk‹ dem etablierten Konservatismus noch fremd, ganz anders als bei den ›Völkischen‹, die mit Sozialdemokraten und Linksliberalen diesbezüglich in eine semantische Konkurrenz traten. Das hatte durchaus seine Logik, denn das Bismarck-Reich war nicht nur aus Sicht der Demokraten unfertig – seine Machthaber betrachteten kirchentreue Katholiken und dann sozialistische Arbeiter als ›Reichsfeinde‹. Es schloss in seiner Ausdehnung zudem etliche Millionen ethnischer Deutscher, namentlich in der Habsburger Monarchie, aus, während es andererseits in Schleswig, in den preußischen Ostprovinzen und – im Hinblick auf das subjektive Bekenntnis – in Elsass-Lothringen nationale Minderheiten eingemeindete.

Dabei betonte die Sozialdemokratie vor allem die soziale Komponente des Volksbegriffs, wie er in den Namen vieler Parteizeitungen enthalten war. Den ›freien Volksstaat‹ zielte das Eisenacher Programm von 1869 an. Und in der Massenagitation blieb das Volk als Adressat – neben der Arbeiterklasse – stets präsent.

Das völkische, der modernen Gesellschaftsentwicklung gegenüber kritische Verständnis von Volk und Nation hatte entscheidende Anregungen erfahren durch Wilhelm Heinrich Riehl, den Begründer der wissenschaftlichen Volkskunde im mittleren 19. Jahrhundert. Die zentrale These: Das Volk könne seine organische Natur nur erreichen, wenn es mit der heimatlichen Landschaft verschmelze. Daher die Hochschätzung des mit dem Boden verwachsenen Bauerntums, die Befürwortung einer neuständischen Ordnung und der Abscheu gegenüber der Großstadt und dem Judentum als dessen vermeintlichem Zersetzungsferment.

Die Hochphase des Volksbegriffs ist mit dem Ersten Weltkrieg zu datieren und setzt sich in der Weimarer Republik fort, deren Anhänger diese als den lange erstrebten Volksstaat priesen, zustande gekommen in der Tat durch eine veritable Massenerhebung von Arbeitern und Soldaten, mit einer auf das reale Volk zurückgehenden, später zu Unrecht schlecht beleumundeten demokratischen Verfassung. ›Volksstaat‹ versus ›Volksgemeinschaft‹ hat man die sich schon im Krieg vollziehende Polarisierung des deutschen Volksdenkens zu benennen versucht. Doch sprachen auch Liberale, Zentrumsanhänger und Sozialdemokraten gelegentlich von der ›Volksgemeinschaft‹ in einem demokratischen Sinn, während rechte Nationalisten gelegentlich einen ›Volksstaat‹ beschworen. Die Weimarer Republik war für sie ein volksfremdes Artefakt; die wahre deutsche Demokratie würde sich in einem plebiszitären Führertum ausdrücken. Völkisches, auch volksimperialistisches und aggressiv antidemokratisches Denken beherrschte seit den späteren 20er Jahren mehr und mehr das politische Spektrum rechts der Mitte und trug dazu bei, dass selbst eine konservative Alternative zu Hitler 1932/33 nicht mehr zustande kam.

Die Heiligung des Volkes im Nationalsozialismus, dessen angebliche Zentralinstanz, war in den Augen der Machthaber von vornherein eine zwiespältige Angelegenheit: Für das politische Volk liegt das auf der Hand; es wurde 1933 entmündigt, und Äußerungen führender Nationalsozialisten über die Volksmassen zeugen eher von Verachtung. Doch auch das ethnisch-kulturelle Volk der Deutschen – wie die anderen Völker Europa, nicht nur die zur Versklavung oder Vernichtung vorgesehenen – wäre in seiner Existenz bedroht gewesen, wenn der rassistische Blutmaterialismus der SS bei anderem Kriegsausgang ungebremst zur Handlungsmaxime geworden wäre. Mit ›Umvolkung‹ und ›Aufnordung‹ standen die instrumentellen Ansätze schon bereit, um den – in den Worten Hitlers – diffusen ›Einheitsbrei‹ des Volkes gewissermaßen züchterisch umzugestalten.

Die Kategorie des ›Volkes‹ bzw. des ›Deutschen Volkes‹ – zentral etwa im Grundgesetz – wurde nach 1945 weiter tradiert, sowohl in der staatsrechtlichen als auch in der ethnischen Bedeutung des Wortes. Das gilt zunächst für alle politischen Richtungen und auch für beide deutschen Staaten. Bei der Bestimmung des Vertriebenenstatus in der Bundesrepublik griff man mangels anderer Kriterien sogar auf die im NS-besetzten Polen erstellte ›Deutsche Volksliste‹ zurück. Warum die Bundesrepublik für sogenannte Volksdeutsche im kommunistischen Machtbereich auch außerhalb der Grenzen von 1937, nicht aber für die in Elsass-Lothringen, in Eupen-Malmedy usw. zuständig sein sollte, konnte nicht wirklich stimmig begründet werden. Jedenfalls blieb die Kategorie des Deutschen Volkes sowohl in der Staatsrechtslehre als auch im Alltagsbewusstsein lange bestimmend als etwas beinahe Selbstverständliches.

Die Globalisierung in den vergangenen drei bis vier Jahrzehnten – mit der Europäisierung als Subprozess – und die parallele, schon früher einsetzende Migration haben, mehr noch als die Reflexion der deutschen Teilungs- und Neuvereinigungsproblematik, vieles geändert. Ungeachtet dessen: Weil die Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit, die Demokratie und der seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa untrennbar damit verbundene Sozialstaat sich nicht zufällig im Gehäuse des Nationalstaats, dieser typisch europäischen Hervorbringung, entwickelt haben, schlägt sich dessen Bedeutungsverlust zugleich als Gefährdung der Demokratie nieder und wird so empfunden.

Eine Kommunikations-, Kultur- und Bewusstseinsgemeinschaft ›Nation Europa‹ ist so wenig in Sicht wie ein voll ausgebauter europäischer Bundesstaat nach dem konstitutionellen Muster der USA, auch wenn starke Elemente einer ›europäischen Gesellschaft‹ im Westen und zunehmend in der Mitte des Kontinents diagnostiziert werden können und die Integrationsdichte die eines klassischen Staatenbundes, also einer Konföderation unabhängiger Staaten, längst übersteigt.

Die Ausbildung eines europäischen Demos, eines übernationalen politischen Volkes, neben dem und unter dessen Dach die einzelstaatlichen, meist sprachlich-kulturell konnotierten nationalen Völker lange weiterexistieren werden, bedarf neben der Parlamentarisierung und Demokratisierung der EU-Institutionen einer noch kaum existierenden europäischen Öffentlichkeit. Doch wenn zwischen den Nationen und den souveränen Nationalstaaten alten Typs unterschieden wird, steht die Entfaltung des Nationalen der weiteren europäischen Integration grundsätzlich nicht im Wege. Und auch die nationalen Einzelstaaten werden zumindest als Bausteine eines Vereinten Europa auf absehbare Zeit bestehen bleiben; sie werden noch benötigt. Meine These der Vereinbarkeit wie des wechselseitigen Aufeinanderangewiesenseins der Nationen und der Union findet eine Stütze in den seit Jahrzehnten durchgeführten demoskopischen Befragungen des ›Euro-Barometer‹. Die eigentliche Bruchstelle wurde nicht zwischen der (meist vorrangigen) nationalen und der mehrheitlich damit kombinierten europäischen Identifikation, sondern zwischen diesen beiden oberen Wahrnehmungs- und Zuordnungsebenen einerseits und einer lokalen Fixierung andererseits festgestellt.

Nur im Zusammenschluss werden die Nationalstaaten Europas weiterhin ihrer demokratischen und ihrer Schutzfunktion gerecht werden können. Das erfordert aber, dass die Europäische Union von einem Transmissionsriemen und einem Katalysator der finanzmarktgesteuerten Globalisierung umdefiniert und umgewandelt wird in einen Schutz- und Gestaltungsraum für das europäische Zivilisationsmodell. Diese Perspektive eines demokratischen und sozialen Europa setzt andererseits realistischerweise hinsichtlich der politisch-rechtlichen und der kulturellen Verfasstheit relativ stabile nationale Einheiten voraus. Alle Einzelvölker Europas sind anthropologisch und ethnologisch mehr oder weniger Mischvölker. Die lange weitertransportierte Vorstellung einer ursprünglichen Volkssubstanz ist längst ad absurdum geführt. Auch die der Nationsbildung des 18. und 19. Jahrhunderts weit vorausgehende Ethnogenese ist als wesentlich politisch-sozialer und nicht biologischer Vorgang erkannt worden. Kultur wird durch Sozialisation und Erziehung, nicht über die Gene vermittelt. Eine moderne, lebendige Nationalkultur respektiert das überlieferte nationale Erbe und die nationalen Traditionen, nimmt aber unentwegt Impulse von außen teils bewusst, teils unbewusst auf und unterliegt so einer ständigen Erneuerung, ohne in der Verflüssigung einfach zu verschwinden.

Was bedeutet die Massenzuwanderung der letzten Jahrzehnte, insbesondere aus anderen Kulturkreisen, für die Zukunft der tradierten europäischen Nationen bzw. Völker? Heute spricht nichts dafür, dass es möglich wäre (von der Wunschbarkeit einmal abgesehen), die Zuwanderung nach Deutschland zu beenden oder gar die hier lebenden Ausländer bzw. Fremdstämmigen wieder auszusiedeln, ohne die Liberalität unserer Lebensform aufzugeben und andere Schäden in Kauf zu nehmen. Das macht die Frage nicht unzulässig, ob es Grenzen der Aufnahmefähigkeit eines gegebenen, relativ dicht besiedelten Territoriums und einer gegebenen Gesellschaft gibt.

Die Existenz und ständige Erneuerung von nicht-deutschen, gettoisierten Parallelgesellschaften, in denen sich soziale Ausgrenzungs- und ethnisch-kulturelle Absonderungstendenzen gegenseitig verstärken, ist jedenfalls mit dem Gedeihen eines demokratischen und sozialstaatlichen Gemeinwesens, das auf Inklusion angelegt ist, nicht vereinbar. Demokratie braucht nicht nur die Akzeptanz gewisser Grundregeln und gemeinsamer politisch-weltanschaulicher Werte (wie der Menschenrechte), sondern auch ein Mindestmaß an kultureller und sozialer Homogenität, damit das Volk im politischen Sinn des Wortes, der Demos, erkennbar und handlungsfähig bleibt.

Im deutschen Fall beinhaltet das nicht nur einen kulturellen und günstigenfalls auch biologischen Verschmelzungsprozess, sondern auch die Bereitschaft der Einwanderer, mit den positiven Traditionen auch das schwere Erbe der deutschen Geschichte, ich meine natürlich den NS-Komplex, als ihr Eigenes anzunehmen. Warum sollten die heutigen Kinder der Krauses und Müllers, deren Großeltern schon nach dem Zweiten Weltkrieg geboren worden sind, mehr Verantwortung – von kollektiver Schuld kann ohnehin keine Rede sein, erst recht nicht im Hinblick auf die Nachgeborenen – empfinden als die der Özdaz' und Husseinis? Mit dieser provozierenden Frage, die auch der SPD-Fraktionsvorsitzende im Berliner Abgeordnetenhaus, der aus Palästina stammende Raed Saleh, nachdrücklich stellt, will ich schließen.

(Vortrag auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft zum Thema in Berlin am 27.10.2015)

(Bildquelle: wikimedia commons)

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