Hatte sich zumal die westliche Welt nach dem Fall der Mauer 1989 und dem Ende des ›realsozialistischen Systems‹ darauf verständigt, dass zum herrschenden kapitalistisch-neoliberalen Gesellschaftsmodell keine Alternative bestehe und das Ende der Geschichte (F. Fukuyama) angebrochen sei, so hat die jüngste Vergangenheit bewiesen, dass diese Sichtweise außerordentlich fragwürdig ist. Weltweite Kriege, Massenmigration, Klimakatastrophen, Schwächung demokratisch regierter Länder und Anwachsen populistisch-autoritärer Staaten rings um den Globus prägen eine Welt, die zunehmend unsicher über ihre Zukunft ist. Geeignete Konzepte zur Lösung weltweiter Problem sind Mangelware; stattdessen breitet sich ein Klima aus, in dem Verschwörungstheorien und fake news Massen beeinflussen und verführen. Jahrzehntelang gültige Konzepte wie die von ›Volksparteien‹ als Stabilisationsfaktor der Demokratie in Deutschland und Europa sind nicht mehr gültig; radikale Ränder bedrohen die demokratische Mitte, wie die jüngsten Landtagswahlen in Ostdeutschland das nachdrücklich bewiesen haben. In Europa befindet sich die Sozialdemokratie in freiem Fall, die Konservativen verlieren ihre Wähler an die neue Rechte. Der Rückzug in den Nationalstaat samt Glorifizierung der ›Heimat‹ wird als rettender Ausweg gepriesen, doch zeigt gerade die jahrelange, zuletzt nur noch hasserfüllte, Debatte um den Brexit in Großbritannien, dass damit kein einziges Problem gelöst wird, sondern lediglich neue geschaffen werden.

In dieser historischen Phase der verbreiteten Ausweglosigkeit unternimmt der Autor, renommierter Sozialwissenschaftler und lange Jahre Leiter des Brandenburg-Berliner Instituts für Sozialwissenschaftliche Studien, den Versuch, ein auf Erfahrungen und Lehren der Vergangenheit gestütztes Gesellschaftssystem der Zukunft zu entwickeln, das er, in Auseinandersetzung mit den Begriffen Evolution, Revolution und Transition eine Transformation der Gesellschaft nennt. Transformation definiert er »als besonderen Typ sozialen bzw. gesellschaftlichen und historischen Wandels, (der) durch drei Merkmale charakterisiert (ist): durch gesellschaftlichen Pfadwechsel statt bloßer Modifikation des längst eingeschlagenen Pfades (1); durch eingreifendes, gestaltendes Handeln von Akteuren, mit dem sich im Kontext evolutionärer, nichtlinearer Entwicklungsprozesse Grundstrukturen und Institutionen der Gesellschaft sowie Lebensweisen der Menschen verändern (2) und durch Orientierungen auf Zukunft, jedoch nicht als rationale Umsetzung eines feststehenden Masterplanes, sondern als offener Suchprozess nach gesellschaftlichen Alternativen in einem neuen Möglichkeitsraum unterschiedlicher Optionen« (3).

Zentrale Aspekte sind also das grundlegende Umdenken und die aktive Bereitschaft der Menschen, neue Wege zu gehen, die nicht zuvor festgelegt, sondern offen sind sowie Barrieren und Rückschläge einzukalkulieren, dafür aber den Weg zu ebnen zu einer humanen und solidarischen Gesellschaft, die durch den Erhalt natürlicher Ressourcen und Nachhaltigkeit geprägt ist: eine Utopie statt derzeit verbreiteter Dystopien.

Der Verfasser geht streng historisch-systematisierend vor. Er stützt sich dabei vor allem auf den österreichischen Wirtschafts-und Sozialwissenschaftler Karl Polanyi, der die Transformationsforschung mit seinem Hauptwerk The Great Transformation (1944) wesentlich inspiriert und bereichert hat. Reißig unterscheidet vier »Transformationen« der Neuzeit, die er mit Hilfe von sechs Grundkriterien (»Bestimmungsachsen«) analysiert: Voraussetzungen, Ursachen und Triebkräfte; Bewegungsformen und Muster; Träger und Akteure; Räumliche und zeitliche Erstreckung; Neuheit; Ziel und Wirkungsrahmen.

Die vier Transformationen fasst er entsprechend: Die erste als die »Doppeltransformation« der englischen ökonomisch-industriellen Revolution sowie der französischen Aufklärung und Revolution mit dem Ergebnis der Entwicklung einer kapitalistisch-industriellen Produktionsweise in einer neuen bürgerlichen Gesellschaft, die die feudalen Strukturen der Vergangenheit abgeschüttelt sowie Menschen-und Bürgerrechte geschaffen hatte.

Die zweite Welle der Transformation umfasst das 19. und das erste Drittel des 20. Jahrhunderts in ganz unterschiedlichen Ausprägungen: rasche Industrialisierung und Wirtschaftswachstum im Westen, Urbanisierung, kapitalistische Logik und zugleich Verbesserung der sozialen Lage breiter Bevölkerungsschichten einerseits und, basierend auf der politökonomischen Theorie des Kapitals von Karl Marx und Friedrich Engels, eine »staatssozialistische Transformation«, beginnend mit der Oktoberrevolution 1917 andererseits. Sehr anschaulich beschreibt der Autor, warum diese Transformation »von oben« ein Fiasko wurde: Ein Sozialismus ohne Demokratie und individuelle Freiheitsrechte sowie ohne Mit-oder Selbstbestimmung der Arbeiter und Bauern, für die das Politbüro die Veränderungen zu realisieren vorgab, konnte nur scheitern. Rosa Luxemburg gehörte zu den ersten Kritikern; später taten es die Austromarxisten um Otto Bauer und der Italiener Antonio Gramsci. Entsprechend wurden sie von Stalin und Konsorten als Häretiker diffamiert, Anhänger in den eigenen Reihen wie Nikolai Bucharin in den dreißiger Jahren liquidiert.

Breiten Raum widmet der Autor dem ›New Deal‹ in den Vereinigten Staaten von Nordamerika unter Präsident Franklin D. Roosevelt, auch als ›Fordistisches Entwicklungsmodell‹ oder ›Sozialkapitalismus‹ bezeichnet: beginnend etwa 1933 nach der globalen Wirtschaftskrise mit dem Höhepunkt des ›Schwarzen Freitag‹ 1929. Ziel dieser Transformation war zweierlei: Linderung der Not der Armen und Arbeitslosen einerseits und Ankurbelung der Wirtschaft durch Investitionen, Ausbau der Infrastruktur und eine grundlegend neue Finanz-und Geldpolitik andererseits. Die Maßnahmen umfassten höhere Löhne, Gewerkschaftsrechte, Sozial-und Krankenversicherung sowie Altersvorsorge. Dabei spielten Überlegungen des großen englischen Ökonomen John Maynard Keynes (1883-1946) eine wesentliche Rolle, der – im Gegensatz zu den Vorgängern Adam Smith und anderen – nicht an die Selbstheilungskräfte des Marktes glaubte, sondern das aktive Eingreifen des Staates zur Förderung der Binnennachfrage und Kaufkraft forderte. Zur Neubelebung der Konjunktur in ökonomischen Krisenzeiten empfahl er eine expansive Geldpolitik der Zentralbanken: Seine Stimme wäre heute in der Europäischen Zentralbank mit ihrer sparerfeindlichen Null-Zins-Politik dringend nötig!

Sein Zeitgenosse Polanyi ging noch einen Schritt weiter: Für ihn bedeutete eine ›Große Transformation‹ ein fundamentales Umdenken im Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft: Der Markt müsse in die Gesellschaft ›eingebettet‹ werden; statt einer Marktgesellschaft müsse eine freiheitlich-demokratische und solidarische Gesellschaft das Modell der Zukunft sein. Wie weit die Moderne dahinter zurückgefallen ist, bezeugte zuletzt Kanzlerin Merkel, als sie eine ›marktkonforme‹ Demokratie pries.

Die dritte Phase der Großen Transformationen versteht der Autor als die Epoche ab den siebziger Jahren mit der Überwindung faschistischer Diktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland sowie autoritärer Regime in Lateinamerika und Asien und nennt sie zugleich Transition oder eine Phase der »Demokratieforschung«. Es geht um Mitsprache der Arbeitnehmer und Entwicklung demokratischer Strukturen, etwa in den Untersuchungen der Frankfurter Kritischen Theorie ( Adorno, Horkheimer). Vollkommen neuartig aber ist, fußend auf dem Bericht des Club of Rome von 1972: Grenzen des Wachstums, der Begriff ›Nachhaltigkeit‹, der seither inflationäre Verwendung findet.

Die vierte Phase der Transformationen schließlich erkennt der Autor in den Jahren unmittelbar nach dem Mauerfall und nennt sie »postsozialistische Transformationen«. Sie seien keineswegs nur ein »einfacher Anpassungsprozess« an die »westliche Moderne…, sondern ein konflikthafter, zyklischer, langwieriger und letztlich ergebnisoffener Prozess«. Notwendig sei ein »kritischer, gesamtgesellschaftlicher Ansatz«.

Im abschließenden dritten Teil der Schrift fordert der Autor nichts weniger als eine neue ›Große Transformation‹ im 21. Jahrhundert. Antagonistisch stünden sich heute ein neoliberaler und ein sozialökologischer Entwicklungspfad in jeweils ganz unterschiedlichen Ausprägungen gegenüber. Die Grenzen neoliberalen Wirtschaftens, für die stellvertretend die Argumentationen Friedrich von Hayeks und Milton Friedmans charakteristisch sind, werden heute deutlicher denn je erkennbar: das Scheitern der autoritären Pseudo-Demokratien in den USA, in Argentinien, Chile und Brasilien, in Afrika und teilweise in Großbritannien. Reißig plädiert vehement für einen neuen sozialökologischen Pfad und fordert, mit anderen Theoretikern, soziale und ökologische Regulierungen mit dem Ziel der Bewahrung natürlicher Ressourcen durch erneuerbare Energien sowie einen ökologischen Ausbau der Infrastruktur: einen »Green New Deal«. Diese Transformation unterscheide sich damit grundlegend von den vier vorangegangenen: Nicht mehr der ökonomische Wandel stehe im Mittelpunkt, sondern der gesellschaftliche. Anzufügen wäre die Frage, ob sich Wachstum und Nachhaltigkeit zukünftig überhaupt noch vereinbaren lassen.

Der Autor ist sich der Schwierigkeiten und Widerstände gegen eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung hin zu ökologischer Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit wohl bewusst. Zu Recht verweist er auf eine sich derzeit deutlich abzeichnende Entwicklung hin zu mehr Egoismus der Menschen, zu nationalstaatlicher Abschottung und zu rassistischen Übergriffen und Hasstiraden gegen Minderheiten. Vorsichtig schließt er mit der Anmerkung, dass den konkreten Verlauf dieser neuen Großen Transformation niemand voraussagen und es keine Garantie ihres Gelingens geben könne. Dahinter steht freilich die Überzeugung, dass wir die letzte Generation seien, die das Steuer noch herumreißen könne, um die Grundlagen des globalen Lebens zu retten.

Dem unerhört gewichtigen und umfassend argumentierenden Werk ist eine breite Leserschaft zu wünschen, zumal, weil es die zentralen Zukunftsfragen der Menschheit in einer auch für den Nicht-Soziologen verständlichen Sprache abhandelt, ohne dabei zu simplifizieren. In Universitäten, in der Erwachsenenbildung und in Schulen sollte es zum Standardwerk erklärt werden.