von Ulrich Schödlbauer

1.

Wer, die Geschichte der Weimarer Republik im Hinterkopf, die heutige Parteienlandschaft, vor allem jedoch die Sitzverteilung im Deutschen Bundestag nach der Wahl vom 24. September 2017 betrachtet, kommt um den bitteren Ausdruck ›Systemparteien‹ nicht herum. Als Parteien des Systems, häufig als ›liberale Ordnung‹ oder ›demokratische Ordnung‹ dieses Landes tituliert, stellen sich im gegenwärtigen Parteienspektrum die vier Parteien der ›alten Bundesrepublik‹ dar, die nach wie vor die Geschicke des Landes bestimmen: CDU/CSU, SPD, Freie Demokraten und Die Grünen. Folgt man ihrer aktuellen Selbstbeschreibung, dann stehen sie seit dem Sommer 2015 in einem heroischen Abwehrkampf ›gegen rechts‹, also gegen die einzige bislang erfolgreiche Neugründung einer Partei auf dem Boden der neuen, um die Länder der ehemaligen DDR erweiterten Bundesrepublik, die AfD.

2.

Dieses Bild ist insofern unvollständig, als es eine klare Linie gegenüber der anderen Flügelpartei, der Partei Die Linke, zu zeichnen unterlässt. Die aus Lafontaines WASG und Linkspartei hervorgegangene Linke ist, anders als die AfD, in ihrer östlichen Ausprägung keine Neugründung, sondern die vielfach umbenannte und umgeschriebene, aber in mancherlei Hinsicht noch immer durchschimmernde Auffangpartei jener sozialistischen Staatspartei der DDR, die als PDS der Einstufung als verfassungswidrig entging, obwohl sie nach wie vor gewisse Schwierigkeiten mit dem als ›kapitalistisch‹ beschriebenen System der Bundesrepublik hat und offen zum Ausdruck bringt. Entsprechende Vorbehalte prägen den Umgang der von linken Repräsentanten als Parteien des Systems, vulgo Systemparteien charakterisierten ›Altparteien‹ mit ihr und führen dazu, dass sie teils als Altlast, teils als Hoffnungsträger einer neuen, einer anderen Republik betrachtet wird, in der im übrigen vieles beim alten zu bleiben hätte.

3.

In Programmatik und Auftreten der ›liberalen‹, ›Alt-‹ beziehungsweise ›Systemparteien‹ lassen sich noch immer Spuren des Grundkonsenses erkennen, der die Politik der alten Bundesrepublik prägte und der, was leicht vergessen wird, die inhaltliche Basis des Beitrittswillens der Bevölkerung der DDR darstellte. Es war und ist falsch, in diesem Beitrittswillen den nationalen Einigungswunsch (»Wir sind ein Volk«) isoliert am Werk zu sehen. Mindestens ebenso ausgeprägt gab sich der Wunsch zu erkennen, mit der damaligen D-Mark das ökonomisch-soziale System der alten Bundesrepublik zu übernehmen – oder besser: von ihm übernommen zu werden. Die Erfolge und Friktionen auf diesem Gebiet bestimmen bis heute die östlichen ›Landschaften‹, deren Erblühen vom Kanzler der Einheit versprochen wurde und nach wie vor zum Zankapfel der Interpreten taugt.

4.

Der liberale Grundkonsens der alten und neuen Bundesrepublik verbindet den Komplex der grundgesetzlich garantierten (›staatsbürgerlichen‹) Freiheiten mit dem Versprechen der ökonomischen Prosperität für alle, soll heißen, nicht für eine kleine Schicht von ›Kapitalisten‹, sondern für alle am Prozess der Wertschöpfung Beteiligten in Verbindung mit dem Versprechen unaufkündbarer Solidarität mit den aus den Arbeitsprozessen Ausgeschiedenen – den Arbeitslosen und, nicht zu vergessen, den Rentnern. Dass die SPD seit dem Ende der Schröder-Kanzlerschaft eine tiefe Vertrauenskrise in der Bevölkerung durchläuft, verdankt sie nicht dem von Vertretern der Linkspartei und ihrer publizistischen Klientel gelegentlich geäußerten ›Verrat‹ an der Arbeiterklasse, sondern der Hartz IV-Gesetzgebung und der bislang misslungenen Umstellung des Rentensystems auf einen Mix aus staatlicher und privater Initiative bei steigendem Eintrittsalter. In beiden Fällen wurde, so die allgemeine Wahrnehmung, ein Sicherheitsversprechen gebrochen, für das, innerhalb des alten Parteienmixes, die SPD stärker haftbar gemacht wurde als die Konkurrenzparteien, deren thematische Schwerpunkte in anderen Bereichen lagen und liegen.

5.

Die anhaltende Flüchtlingskrise hat diese Vertrauenskrise verschärft und auf die Gesamtheit der Altparteien ausgeweitet. Dass mit der AfD eine neue, weithin ›bürgerliche‹ Partei bereitstand, die das aufflammende Unbehagen und den aus ihm entstandenen Unmut aufzufangen wusste, hätte sich unter parlamentarisch-repräsentativen Gesichtspunkten als normaler und unter demokratischen Vorzeichen begrüßenswerter Vorgang betrachten lassen, der verhinderte, dass sich stattdessen ein leicht in Gewalt umschlagender Druck der Straße aufbauen konnte. Eine solche Gefahr war und ist nicht von der Hand zu weisen, wie der Erfolg der Pegida-Bewegung zeigt, deren (weithin friedlicher) Verlauf umgehend hektischen Gegen-Aktionismus auf den Plan rief – nicht zuletzt aus Sorge, hier einen Systemgegner entstehen zu sehen, der sich nicht mehr ins parlamentarische Gefüge der Politik würde zurückbinden lassen. Die Flüchtlingskrise war und ist der Auslöser eines Unbehagens in der Bevölkerung, in dem das traditionelle Sicherungsbedürfnis weit überschritten ist: hier werden ökonomische, kulturelle und politische Errungenschaften als gefährdet empfunden, die sich sehr wohl im Begriff von ›Grundwerten‹ bündeln lassen und deren offensive Verteidigung den Unterschied von ›Gesellschaft‹ und ›Gemeinschaft‹ verschwimmen lässt – ein Vorgang, der wiederum tiefliegende Ängste bei denjenigen Verteidigern des ›Systems‹ hervorzurufen geeignet ist, die unverbrüchlich auf der reinlichen Scheidung beider Organisationstypen – sowie der Ächtung des letzteren im politischen Feld – beharren.

6.

Meine erste Prognose lautet: CDU/CSU – und, in ihrem Windschatten die FDP – werden, wenngleich mit Blessuren, diese Vertrauenskrise in dem Maße überwinden, in dem es ihnen gelingt, sie innerhalb der Partei als Drama zu inszenieren, in dem um die Deutungshoheit in den Punkten Freizügigkeit, humanitäre Verpflichtung und Wohlstandssicherung gerungen wird, ohne dass sich die Waage allzu rigoros auf eine Seite neigt. Die – zweite Prognose – durch die letzten Wahlen ohnehin auf ihre Stammwählerschaft reduzierte Partei der Grünen kann es sich erlauben, weiterhin als Gesinnungspartei die Fahne freien Zuzugs und offener Grenzen hochzuhalten, ohne im Kern gefährdet zu sein. Der SPD hingegen – dritte Prognose – steht eine lange Phase machtpolitischer Agonie ins Haus, sofern sie sich nicht dafür entscheidet, mit raschem und energischem Schnitt sich von dem Führungspersonal zu verabschieden, das in den entscheidenden Monaten dafür gesorgt hat, dass just die Partei der ›kleinen Leute‹ in der Phase ungehemmter Grenzöffnung ohne eigene Stimme blieb und den verheerenden Entscheidungen einer kopflosen Politik ein progressiv-humanitäres Mäntelchen überzuziehen half. Wenn, wie der letzte Parteivorsitzende gerade erneut herausstrich, Hartz IV eine schwärende Wunde im Körper der Sozialdemokratie darstellt, die nicht weggehen will, so hat das Verhalten der SPD in der Flüchtlingskrise das Zeug zum Auslöser einer langanhaltenden posttraumatischen Belastungsstörung innerhalb der Partei und ihrer angestammt-potenziellen Wählerschaft.

7.

In diesem Licht sollten die Zehn Thesen für ein weltoffenes Deutschland gelesen werden, mit denen die Sozialdemokraten Richard Schröder und Gunter Weissgerber zusammen mit der Grünen-Politikerin Eva Quistorp in diesen Tagen die herrschende Politik zur Präzisierung ihrer Flüchtlings- und Einwanderungskonzepte anzuhalten versuchen. Wer will, kann sie zum größeren Teil als Aufforderung lesen, zu einer mehr oder weniger bewährten Rechts- und Verwaltungspraxis in Verbindung mit einer realistischen Einschätzung der eigenen Kräfte und Möglichkeiten zurückzukehren, die vom Panik-Bonapartismus der letzten Jahre, gekennzeichnet durch ad-hoc-Entscheidungen ohne gründliche parlamentarische Vorbereitung und unter Abwesenheit inhaltlich kontroverser Debatten in und zwischen den verantwortlichen Parteien, außer Kraft gesetzt wurde. Damit ordnen sie sich in eine kräftige, mittlerweile in allen Parteien erkennbare Unterströmung ein, deren Einfluss auf die oberen Parteiebenen und die Politik der kommenden Koalitionsregierung jedoch ungewiss bleibt.

8.

Was wie ein freundlicher Wink an die in ihrer Schwäche weiterhin stärkste Partei des Landes und ihre augenblicklich ins Auge gefassten Koalitionspartner wirken kann, entfaltet seine Sprengkraft inmitten einer Sozialdemokratie, die, bar aller personellen Alternativen auf der Führungsebene, in denen eine glaubwürdige Abkehr vom bisherigen Kurs für die Bevölkerung sichtbar würde, gerade Gefahr läuft, sich in eine neue Haftungsgemeinschaft hineinzubegeben. Abzusehen ist, dass eine kraftvolle Oppositionspartei, das heißt, eine Partei in der Rolle, auf die sich die SPD im kommenden Bundestag festgelegt hat, nicht umhinkommen würde, in wesentlichen Punkten, unbeschadet aller feinsinnig ziselierten und mit dem Hammer ins Gelände getriebenen Grenzen, mit der AfD gegen ihre bisherigen Koalitions- und vor der Wahl vergebens ins Auge gefassten Bündnispartner zu stimmen, es sei denn, die künftige Regierungspolitik machte, womit kaum zu rechnen ist, diese Art von Opposition durch einen energischen Schwenk gegenüber den bisherigen Positionen überflüssig: eine Zerreißprobe ohnegleichen, die jede besonnene Parteiführung ihren Parlamentariern gern ersparen wird, deren Alternative aber – hier greift der konservative Topos der Alternativlosigkeit – automatisch den Vertrauensverlust der Partei in der Mehrheitsbevölkerung – siehe Hartz IV – konserviert. Eine oppositionelle SPD als Erfüllungsgehilfin einer Jamaika-Regierung, die AfD und Linkspartei das Opponieren überlässt, es sei denn, sie geht ein taktisches Bündnis mit letzterer ein und stiehlt sich auf diese Weise aus der Verantwortung für die Politik der vergangenen Jahre, kann wenig mehr sein als ein Grabwächter am polierten Gedenkstein einer großen Vergangenheit, vor dem ein aufgeworfenes Häufchen Erde vom unseligen Ende der Volkspartei Godesberger Andenkens kündet.

9.

Dass es soweit kommen konnte, hat mit jener ›selbstverschuldeten Unmündigkeit‹ zu tun, die abzuschütteln – laut Kant – die Aufgabe jeder Selbsttätigkeit darstellt, die den hoffnungsvollen Titel der Aufklärung für sich beansprucht. Wie die Dinge liegen, haben SPD und Christdemokraten, zusammen mit den Grünen und Teilen der FDP, den Aufstieg der AfD dazu missbraucht, von ihrem eigenen Versagen angesichts realer regionaler und Weltkrisen abzulenken. Die Selbstlähmung des Parlaments begann nicht erst im Flüchtlingsjahr 2015, sie geht zurück auf das als ›alternativlos‹ deklarierte Handeln der Bundesregierung in der Bankenkrise und während der hektischen Euro- und Griechenland-Rettungsaktionen, als schamlos der Post-45er Topos, von diesem Land dürfe nur noch Frieden ausgehen, in den Dienst von Banken- und Großinvestoreninteressen gestellt wurde, während die geretteten Südeuropäer in ihren privaten Lebensumständen noch heute auf die Segnungen der damals angeschobenen Reformen warten. Dass Parteien, deren Konzeptionslosigkeit gegenüber einer sich durchwurstelnden Politik ein gerüttelt Maß an Mitschuld am Brexit trägt – einer europäischen Katastrophe, deren Spätfolgen dieses Land noch verfolgen werden –, sich ein Monopol auf europafreundliche Politik bescheinigen, kann nicht ohne Rückwirkung auf die Wahrnehmung des Parteiengefüges bleiben. Erst die Sündenbock-Position hat es der AfD erlaubt, in ihrer Propaganda die ›Altparteien‹ als ›Systemparteien‹ zu einer einzigen Partei des Machterhalts zusammenzuschieben – nicht ohne Rückwirkung auf die derart Markierten, die es im letzten Wahlkampf kaum mehr wagten, an die vom rechten Herausforderer besetzten Themen zu rühren.

10.

Währenddessen schleicht sich eine neue Lähmung in die europäische und deutsche Politik ein, in Bezug auf die man vergebens konstruktive Debatten im Bundestag und im Parteienmilieu sucht. Das Gespenst des Islamismus, des kämpferischen Islam und seiner ›friedlichen‹ Pendants unter der Decke konservativer Islamverbände sowie unter dem Schutz des Grundgesetzes stehender Überzeugungen Einzelner, die sich zu statistisch beachtlichen Gesinnungsprofilen verdichten, geht um in Europa und erzeugt Unsicherheiten, gegen die gehalten die Defizite der öffentlichen Kassen zu minor problems verkümmern. Offenbar fällt es leichter, auf Identitätspolitik zu schimpfen und sie damit großzuziehen, als dem großen Identitätsgeber, der zum Herausforderer heranwuchs und weiter anwachsen wird, ins Gesicht zu sehen und Maßnahmen zur Sicherung des Gemeinwesens zu treffen, die über wohlfeile Kompatibilitätsversicherungen hinausreichen. Es ist ein Verdienst der Verfasser jener zehn Thesen, dass sie dieses Thema im Parteienkontext zumindest anfassen, auch wenn ihnen wenig mehr dazu über die Lippen geht als die gängigen Warnungen. Hört auf die, die etwas zu sagen haben, möchte man den Verantwortungsträgern zuraunen, auf dass ihr länger etwas zu sagen habt. »Ik bün schon da«, sagt der Igel und das ist wahr, da können die Langohren flitzen, soviel sie wollen.