von Ulrich Schödlbauer

Als die Wissenschaft von der Literatur von den Bildschirmen der Weltpresse verschwand, hinterließ sie der schreibwütigen Menschheit ein kleines schmutziges Andenken: das Narrativ. Narrativ heißt die Erzählung hinter der Erzählung, das Muster der immer gleichen Versatzstücke, aus dem eine Zeit ihre Lieblingsgeschichten gewinnt. Personen und Orte wechseln, der Stoff bleibt sich gleich. So steckt in jeder tragischen Liebesgeschichte ein Stück von Romeo und Julia, in jedem Macron ein kleiner Napoleon, in jeder Kanzlerin die Erinnerung an Einheit und Zwist im Bismarckreich, an Kirchenkampf und Sozialistengesetze – nur die real existierenden Konfliktparteien wechseln. Die Narrative liegen also bereit, sobald die Politiker, die Nachrichtenleute, die Kommentatoren des Weltgeschehens dem Publikum, das bereits im Bilde ist, ihre Versionen des Weltgeschehens auftischen.

Der Stoff, an dem die Geschichten, die uns da aufgetischt werden, Maß nehmen, klebt sozusagen an seiner Ursprungsgeschichte. Stempelt jemand eine öffentliche Person zum ›Nazi‹, dann ruft er damit in der Phantasie seiner Leser nicht etwa die Figur eines Horst Mahler (die sicher auch über eine gewisse Prominenz verfügt), sondern das Dritte Reich samt seinen Führungsfiguren und Gräueln auf: der NS-Staat ist Maßstab und Referenz, insofern Teil des Narrativs, das da lautet: Rechts von uns ist … Kloake. Verständlicherweise erfreut sich dieses ›Wir‹ einer höchst plastischen Natur. Denn das Narrativ bräche zusammen, umfasste es nicht auch den – unbekannten – Hörer oder Leser, es sei denn, es handelte sich – seltener Fall! – tatsächlich um einen bekennenden Nationalsozialisten. Allerdings ginge in diesem Fall der Abschreckungsfaktor verloren. Narrativen, so wie der Ausdruck gegenwärtig gebraucht wird, liegen Wertentscheidungen zugrunde.

Das Narrativ ›Rechte sind Nazis‹ kann so überaus erfolgreich, gleichsam als universal pattern eingesetzt werden, weil die direkte Verbindung zwischen dem historischen Nationalsozialismus, der weltweit existierenden Nazi-Szene und dem polemischen Alltagsgebrauch seit langem verlorengegangen ist. Allen historischen Schrecken und aller Gedenkkultur zum Trotz ist der Ausdruck ›Nazi‹ eine popularkulturelle Schreckschusspistole, geeignet, schreckhaft veranlagte Leute zu scheuchen, während der Rest der Gesellschaft feixt oder schimpft, sofern er nicht einfach schweigt. Dasselbe gilt selbstredend für das symmetrische Narrativ ›Linke sind Kommunisten‹ … mit einer Abweichung: ›Kommunist‹ zu sein – oder sich so zu nennen –, gilt in dieser Gesellschaft als Zeichen eines aufrichtigen Charakters bei vielleicht ein wenig eingeschränkter Urteilskraft, doch auch darüber wäre zu reden. Während die NS-Verbrechen immer eingeblendet sind, sobald das Kraftwort ›Nazi‹ die Runde macht, bleiben die keineswegs auf das Stalin-Reich und die Stalin-Ära beschränkten Massenverbrechen ›der Kommunisten‹ bei einem großen Teil der Bevölkerung und den Lenkern des öffentlichen Diskurses mehr oder weniger ausgeblendet.

Das ist ein Sinn des Satzes: Kein Narrativ gleicht dem anderen. Die Gleichsetzung unterschiedlicher Narrative ist selbst ein Narrativ, das sich seine Anhänger und Freunde schafft. Die populäre Form der Totalitarismus-These etwa ist so eines: Kommunisten sind rotlackierte Nazis (oder umgekehrt). Das Schumacher-Narrativ (wenn man es so nennen will) schneidet die lange Kette möglicher, mehr oder weniger plausibler, mehr oder weniger wichtiger Vergleiche ab, um ein negatives Identifikationsfeld zu gewinnen: Wer sich mit denen einlässt, ist auch ein Nazi. Das wütend gespiegelte Gegenstück, bestens bekannt aus den Jahren der Teilung, lautet dann: Wer Kommunisten mit Nazis vergleicht, ist selber einer. Als Narrativ ist das untadelig, als Aussage der reine Blödsinn. Und es funktioniert in Kreisen, die seiner offenbar bedürfen.

Zurück in die Gegenwart. Eine Spezialform des Narrativs ist das verdeckte. Hier wird die Ursprungserzählung ausgeblendet, bleibt aber durch ein Wort, einen Wortbestandteil oder auch nur eine auffällige Satzkonstruktion anwesend: Wer Masken verweigert, der… Das klingt nicht gut. Auffällig auch die durch die Endung ›-leugner‹ erzeugte Reihe: ›Holocaustleugner‹, ›Klimaleugner‹, ›Coronaleugner‹. Selbstverständlich steht der Holocaustleugner Pate, wann immer diese Formel verwendet wird. Ebenso selbstverständlich bleibt das zugrundeliegende Narrativ ›Wer das Klima leugnet, der leugnet auch den Holocaust oder doch fast‹ unausgesprochen – vermutlich, weil es, ausgesprochen, bloß grotesk wirken würde. Auch daraus lässt sich eine Waffe schmieden: Wer unser verschwiegenes Narrativ auszusprechen wagt, ist selbst ein Rechter und damit … siehe oben. So erzeugt man im Handumdrehen Tabus –: inmitten freier öffentlicher Rede, unter Einbeziehung sämtlicher Verfassungsrechte des Einzelnen, bei voller Meinungsfreiheit. Wer darauf hinweist, dass niemand das Klima leugnet, dass allein schon das Wort verrückt ist und der reinen Denunziation dient, der … nun ja, ist den Tabuwächtern bereits auf den Leim gegangen und darf in der Hölle schmoren.

Der Coronaleugner, so hören wir, soll ja ein Fall für den Staatsanwalt sein, zumindest ein Löschkandidat in den sozialen Medien sowie am Arbeitsplatz. Das wirkt, legt man das Narrativ zugrunde, das sich in diesem Wort verbirgt, fast schon plausibel, und eine Politik, die es auf die Erzeugung von Freund-Feind-Verhältnissen anlegt, verführe fast zu harmlos, würde sie bei der Durchsetzung ihrer Beschlüsse auf dieses mächtige Agens im Untergrund verzichten. Da der real existierende Coronaleugner eine rara avis, ein wahrhaft seltener Vogel ist, schlägt damit die Stunde der harmlosen Narren, die schon immer im Fernsehen zeigen wollten, was in ihnen steckt. Das Medium zieht es heraus und jeder Depp darf sich den ›Aluhüten‹, ›Flacherdlern‹, ›Chemtrail‹-Spezialisten und so fort überlegen fühlen. Was das Verhältnis zwischen Narren und Deppen angeht, so beschäftigt es, neben versprengten Sprachwissenschaftlern, seit altersher vor allem die Komiker. Kein Wunder, dass die Thematik inzwischen auf dem Seziertisch des Kabaretts gelandet ist und dort einen totgeglaubten Staatsfeind zu neuem Leben erweckt hat: den Spaßvogel, der sich gern auch Satiriker nennen lässt. Währenddessen laufen sich die nicht so wenigen Aufklärer die Hacken krumm, um einen Audienztermin bei den Medien zu erwirken, und hoffen auf die Wende zum Besseren.

Was heute ›cancel culture‹ genannt wird, die Zugangsverweigerung zu öffentlichen Auftrittsorten und prestigeträchtigen Publikationen aufgrund politischer Missliebigkeit – wobei das Missliebige weit in den Bereich persönlicher Freiheiten hineinreicht –, ist, bei Licht betrachtet, nur ein später und im Grunde zwingender Ausfluss der Gesellschaftssteuerung mit Hilfe von Mikronarrativen, deren Hauptzweck darin besteht, den Anderen, gleich welcher Couleur, zu verhässlichen. Den Anderen? Ganz recht, den Anderen, das Hätschelkind einer eben noch brandaktuellen Narration des heiligen ›Du‹ und des bedingungslosen Miteinanders. Welcher Mehrwert kann schließlich darin liegen, dem hässlichen Anderen eine Bühne zu bieten, wenn es doch nur darum geht, um der eigenen Identität willen sich seiner Hässlichkeit zu versichern? Selbstverständlich keiner.

Wo immer ein Tabu errichtet wird, ist das Fremde nicht weit. Was wir in diesen Wochen und Monaten erleben, ist die formfordernde Gewalt des Fremden, als dessen prompter Anwalt eine Instanz auftritt, die gewillt ist, keine andere neben sich gelten zu lassen oder auch nur zu dulden: das viel beschriebene, ironie- und kritikfeste Kollektiv der Wohlmeinenden. Dieses Fremde kann die Willkürgestalt konstruierter Identitäten annehmen, mit deren verwirrender Vielfalt der Alltagsmensch nur unter Verrenkungen zurechtkommt, so dass er hin und wieder zu garstigen Ausbrüchen neigt. Es kann aber auch das Nichtidentische des eigenen ungeklärten Inneren sein: Angesichts einer simplen Realitätsforderung nimmt es sich das Recht heraus, von Zeit zu Zeit ›auszurasten‹ und Aggressionen freizusetzen, welche sich mit kindischen Bildern einer hier und jetzt heilbaren Welt verbinden, um so die im Prinzip einverstandene Mitwelt zu tyrannisieren.

Als finale Gestalt dieses gesichtslosen Fremden muss man dann wohl ein Virus begreifen, das von keinem seiner laborfernen Explorateure je gesichtet wurde, dessen unsichtbare Gegenwart ihnen aber die Potenz verleiht, das Leben der Anderen abzuriegeln, zumindest so weit herunterzufahren, dass ihr Protest gegen diese Vergewaltigung nur wie das törichte Gerede eines Kindes erscheint, das angesichts der Gefahr zu seinem Wohl gezwungen und mit Liebesentzug bestraft werden muss. Auf dem Höhepunkt einer modernen, aufgeklärten, mit allen technisch-medizinischen Raffinessen bestückten Kultur erscheint die Unmündigkeit pur und fordert bedingungslose Anerkennung bei Strafe der Auslöschung der Lebensspuren der Aufmüpfigen: Sie sollen sein, als gäbe es sie nicht, schlimmer, als seien sie, alle miteinander, Träger des Virus und damit Fremde.

Wer allerdings glaubt, auf diese Weise gute Aufnahmebedingungen für die ins Land strömenden wirklichen Fremden zu schaffen, die ja nicht Fremde zu bleiben gedenken und am Ende so fremd gar nicht sind, der darf auch daran glauben, dass die Sonne bei angemessener Behandlung eines Tages im Westen aufgehen wird.

Narrative sind nützlich und wichtig. Die Welt des Naiven ist aus Licht, Luft und Bewegung gebaut: Allein dieser Satz bezeugt, dass wir alle, was unser Dasein angeht, naiv sind und bleiben. Nach Maßgabe dieser Naivität erschaffen wir uns unaufhörlich das Leben der anderen. Wir dichten ihnen Bewegungsmodelle an, wann immer sie einen Schritt tun, der uns erklärungsbedürftig erscheint. Gefährlich sind nicht die Modelle – es ist das Wir, das sich ihrer bedient. Ich habe die Freiheit, ein Narrativ jederzeit gegen ein anderes auszuwechseln, sie zu kombinieren, zu regruppieren oder sie ganz fallen zu lassen und neu anzufangen. Das Wir hingegen besitzt diese Freiheit nicht: Hat es ein Narrativ erst verhängt, wird es selbst sein erstes Opfer. Wer einmal ein Nashorn im Angriffsmodus erlebt hat, der ahnt, was kollektive Narrative bewirken können. Wo keine Kurskorrektur und kein Halten mehr möglich ist, da endet mit den Einspruchsmöglichkeiten der Vernunft auch die Fähigkeit, Narrative als das wahrzunehmen, was sie nun einmal sind: aus Schablonen gefertigte Leitplanken, dazu bestimmt, Ungewissheit und Unsicherheit abzublenden, aber nicht, ein Realgeschehen abzubilden. In dieser Hinsicht ist das politisch-mediale Geschehen, wie es sich in diesen Monaten um ›Corona‹ bündelt, zutiefst beschämend. Es spricht den Grundsätzen einer aufgeklärten Gesellschaft Hohn. Regierungen erliegen Narrativen, die von ihnen selbst – und ihren willigen Helfern – unters Volk gestreut wurden, und flüchten sich, von der Wirklichkeit eingeholt, in die Vorstellungswelt Orwells: Unwissenheit ist Wissen, Schaden ist Nutzen, Verbot ist Freiheit, Erkenntnis ist Lüge. Das Schlimmste vielleicht: Die Furien der blinden Gefolgschaft sind immer rege.

Geschrieben von: Schödlbauer Ulrich
Rubrik: Kultur