Ein Blick über den Euphoriehorizont

von Wolfgang Rauprich

Digitalisierung ist heutzutage als Schlagwort in aller Munde, wenn es darum geht, in offiziellen Verlautbarungen, in Sonntagsreden von Politikern oder im medialen Rauschen innovativ erscheinende, aber möglichst unkonkrete Zukunftsvisionen zu beschwören. Neuerdings befeuert von den negativen Auswirkungen der Corona-Krise auf beinahe alle Bereiche des Lebens, gilt Digitalisierung als Allround-Lösung für Probleme nahezu jeder Art. Nun soll die Digitalisierung unter der Ampel-Regierung mit aller Macht vorangetrieben werden, weil Deutschland in einen Rückstand geraten sei. Eine deutsche Bundeskanzlerin brachte ihre Sorge darüber sogar mit einem Begriff aus dem ›Argot‹ der Ostberliner Kindergartenszene zum Ausdruck: ›… dass wir einfach irgendwann Bummelletzter sind‹.

Allzu gern wird in Deutschland ausgeblendet, dass sich die Wirtschaft lange vor den Corona-Lock-Downs in einem Abwärtstrend befand, der durchaus auch politischen Entscheidungen zugunsten von Deindustrialisierungsstrategien anzulasten ist. Nun ist allenthalben zu hören, die Pandemie böte die Chance, die Digitalisierung stärker als bisher voranzutreiben und damit die deutsche Wirtschaft auf ein völlig neues Niveau zu heben, auf eines, das in die bessere Zukunft des europäischen ›Green Deal‹ führe. Industrie 4.0 oder IoT (Internet of Things) sind die Schlagworte in der Politik und bei manchem Großlenker in der hiesigen Industrielandschaft. Angesichts der realen Corona-Politik klingen solche Erwartungen eher wie das berühmte ›Pfeifen im Walde‹.

Nun ist es freilich möglich, mit Hilfe von Digitalisierung Produktivitätsfortschritte in der Industrie und in gewissen Grenzen auch in der Dienstleistungswirtschaft sowie in den Verwaltungen zu erzielen. Diese nützen aber nur, wenn eine entsprechende Nachfrage besteht und Produktivität in wirtschaftliche Ergebnisse münden kann. So wird die Wirtschaft aufgefordert, die Digitalisierung zu nutzen, um neue Produkte zu schaffen und somit Nachfrage zu stimulieren. Aber welche könnten das sein? Die als besonders förderungswürdig erachteten sogenannten grünen Wirtschaftssegmente sind nicht in der Lage, derart starke Impulse zu setzen, wie sie zur Überwindung der Krise nötig wären. Und überhaupt will ja die grüne Ideologie das Wachstum generell begrenzen. Viele Marktbereiche sind übersättigt, und der oft herbei zitierte intelligente Kühlschrank oder der Smart Meter dürften zur Belebung der Konjunktur wenig beitragen, ebenso wie Wasserstoffwirtschaft und Elektromobilität bei knappem Strom und gleichzeitig herbeigeführtem Niedergang der Automobilindustrie. Corona bedingte Konsumzurückhaltung, wirtschaftsfeindliche Überregulierung und rezessive Weltwirtschaft sind nicht durch Digitalisierung zu kompensieren. Doch gerade auf jenem Gebiet, welches den großen Aufschwung bringen soll, der Digitalisierung selbst, ist Deutschland zu entscheidenden Innovationen schon lange nicht mehr in der Lage.

Das Land des Konrad Zuse ist auf Technologien aus China angewiesen

Ausgerechnet in dem Land, in dem Konrad Zuse Rechner mit binärer Gleitkommaarithmetik entwickelte und damit den Grundstein für das heutige Computing und damit für die Digitalisierung schlechthin gelegt hat, gibt es keinen Hersteller von signifikanter Relevanz mehr, der dazu fähig wäre, auf diesem Gebiet bahnbrechende Fortschritte hervorzubringen. Hochkarätige universitäre Forschungsergebnisse und solche aus deutschen Instituten der Spitzenforschung, die es ja gibt, werden nicht selten erst durch ausländische Investoren zur Marktreife geführt. Fast alle großen Mikroelektronik- und Computerproduzenten mit enormen Forschungs- und Entwicklungspotenzialen, inklusive Mobilfunkausrüster und Internetindustrie, befinden sich in den USA und in Fernost. Im Gegenteil sind deutsche Unternehmen bei der Implementierung der neuesten Mobilfunkgeneration offenbar auf Technologien aus China angewiesen. Übersehen wird bei den hochoffiziellen Aufrufen zum Aufholmarathon, dass dieses Defizit nicht erst seit zehn Jahren besteht, sondern weit in die Anfangszeit des Computers zurückreicht, da die Zukunftspotenziale der Computertechnologien hier im Land lange Zeit weitgehend unerkannt blieben. Derartige Langzeit-Rückstände werden sich mit plötzlichen Hau-Ruck-Aktionen zur Digitalisierung kaum aufholen lassen.

So besteht in Deutschland das Paradoxon, dass trotz Industrie 4.0, Internet der Dinge und sonstigen Digitalisierungsbestrebungen in Industrie und Dienstleistung kein Produktivitätszuwachs verzeichnet wird, sondern im Gegenteil eher eine nachlassende Dynamik seit Jahren als manifest gilt.

[Siehe auch: Kuntze, Peter und Mai, Christoph-Martin, Arbeitsproduktivität – Nachlassende Dynamik in Deutschland und Europa, Statistisches Bundesamt, WISTA 2, 2020, S.20, 21/ (https://www.destatis.de/DE/Methoden/WISTA-Wirtschaft-und-Statistik/2020/02/arbeitsproduktivitaet-022020.pdf?__blob=publicationFile)
Oder: Produktivitätswachstum in Deutschland, IW Consult GmbH, Institut der Deutschen Wirtschaft, Gutachten im Auftrag des Bundesverbandes der Deutschen Industrie e.V., Köln 2019, S.69 ff.(https://www.iwkoeln.de/fileadmin/user_upload/Studien/Gutachten/PDF/2019/Gutachten_BDI_Consult_Produktivitaetswachstum_in_D.pdf)]

Angesichts dessen wird in der politischen Realität Digitalisierung nach wie vor in Kilometern pro vergrabenem Glasfaserkabel bemessen, allenfalls noch am Grad der Bereitstellung von digitalen Endgeräten in Schulen. Die Förderung der Glasfaserverkabelung ist zwar löblich, kommt aber mindestens zehn Jahre zu spät und betrifft heute eine Technologie, die ihren Zenit überschritten hat. Angesichts des teilweise schon zur Verfügung stehenden 5G-Mobilfunks (5. Generation) und der bereits laufenden Entwicklungen an weiteren Generationen der mobilen Kommunikation, dürften Glasfaserkabel in absehbarer Zeit zwar zur Übertragung größter Datenmengen zwischen den Rechenzentren großer Netzwerke benötigt werden. Langfristig wird die Bedeutung von Festnetzanschlüssen in der Breite rückläufig sein.

Eine Entwicklung, deren Tragweite nur ungern thematisiert wird

Auch wenn sich manche Politiker Digitalisierung ans Revers heften, ohne genau zu wissen wovon sie reden, wird sie in der Forschung und Entwicklung, in der industriellen Produktion und bei der Rationalisierung von Geschäftsprozessen mit großer Ernsthaftigkeit vorangetrieben. Vor allem geht es dabei um Kostenreduzierung, allerdings ohne dass dadurch der wirtschaftliche Erfolg garantiert wäre. In großen wie auch kleineren technologieorientierten Denkfabriken werden weltweit durchaus technische Zukunftsvisionen entworfen. Auf einer Zeitschiene von zehn bis fünfzehn Jahren prognostizieren die meisten von ihnen einen kräftigen Arbeitsplatzzuwachs durch die Digitalisierung. Die Mutigeren in dieser Riege, die sich einen Blick über diesen Euphoriehorizont und auch über einen solchen Zeitraum hinaus zutrauen, dürften weniger optimistische Prognosen stellen. Denn: Alles, was heute bereits unter Digitalisierung, Industrie 4.0 oder Internet der Dinge läuft, ist erst der Anfang einer enormen Entwicklung, deren Tragweite öffentlich nur ungern thematisiert wird. Das liegt an eher unangenehmen Begleiterscheinungen, für die in Zeiten Mainstream gelenkter Debatten kein Platz ist. In der Tat ist Digitalisierung in der Lage, riesige Entwicklungspotenziale zu mobilisieren, die den rasanten Technologiewandel der zurückliegenden 60 Jahre weit in den Schatten stellen werden.

Ob dies jedoch breiten Bevölkerungsschichten langfristig zum Vorteil gereicht, die jetzt noch in relativem Wohlstand leben, muss dahingestellt bleiben. In einer Studie der University of Oxford wurde bereits 2013 prognostiziert, dass durch die Digitalisierung an die 47 Prozent der Arbeitsplätze in den USA verloren gehen könnten.

[Siehe auch: Carl Benedikt Frey und Michael A. Osborne, The future of employment: How susceptible are jobs to computerisation, University of Oxford, 17.09.2013 (https://www.oxfordmartin.ox.ac.uk/downloads/academic/The_Future_of_Employment.pdf)]

Was für die USA gilt darf ebenso auch für Westeuropa und Deutschland angenommen werden. Nicht umsonst ist also eine Debatte um ein voraussetzungsloses Grundgehalt entbrannt, die nicht nur im linken Lager geführt wird. Offenbar hat sich in der Politik eine gewisse Grundströmung formiert, die davon ausgeht, dass die voranschreitende Digitalisierung in den Wertschöpfungsketten der Wirtschaft grundlegende Umbrüche hervorbringen wird, die dazu angetan sind, schwere soziale Verwerfungen nach sich zu ziehen. Die Frage, was mit Menschen geschehen soll, deren Qualifizierungspotenzial ausgeschöpft ist, sodass sie in einer durchdigitalisierten Arbeitswelt keine Chance mehr auf eine Erwerbstätigkeit haben, wird sich in den kommenden Jahren immer drängender stellen.

Zur Digitalisierung gibt es keine historische Referenz

Ungeachtet dessen besteht dennoch ein diesbezüglicher Diskurs unterhalb des öffentlichen Aufmerksamkeitsradars, in dem insbesondere die Thematik der zu erwarteten Arbeitsplatzentwicklung im Mittelpunkt steht. Dabei haben sich gewissermaßen zwei Lager herausgebildet, die sich ausnahmsweise nicht unbedingt entlang der ansonsten üblichen Mainstream-Linien formiert haben. Das heißt, es gibt (noch) nicht die in anderen Bereichen von Politik und Gesellschaft üblich gewordenen Stigmatisierungen. In Deutschland hat sich ganz allgemein eine eher optimistische Lesart durchgesetzt, die lieber auf das Terrain vor dem Euphoriehorizont schaut. Dort gilt, dass durch Digitalisierung zwar viele Arbeitsplätze, insbesondere solche mit mittleren und geringeren Qualifikationsanforderungen, wegfallen werden, aber deutlich mehr durch die neuen Technologien gewonnen würden. Hierbei stehen Politik und Wirtschaft recht eng beieinander. Bei aller Ambivalenz neigen selbst Gewerkschaften in diese Richtung.

[Siehe auch: DGB-Konzept: Künstliche Intelligenz für Gute Arbeit. Deutscher Gewerkschaftsbund, 26.05.2020. (https://www.dgb.de/themen/++co++90915258-9f34-11ea-9825-5254008f5c8c)
Oder: Heiner Dribbusch, Peter Birke: Studie: Gewerkschaften in Deutschland, Herausforderungen in Zeiten des Umbruchs, Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2019 (https://www.fes.de/themenportal-bildung-arbeit-digitalisierung/artikelseite/deutsche-gewerkschaften-in-zeiten-des-umbruchs)]

Kritiker, vorwiegend aus sozial- und kulturwissenschaftlichen Milieus, beziehen hier eher skeptische Positionen und rechnen mit massivem Arbeitsplatzabbau in Folge der Digitalisierung. Dabei stehen zumeist soziokulturelle Einzelprobleme und deren Auswirkungen im zeitlichen Nahbereich im Vordergrund, seltener langfristige Überlegungen zu grundsätzlichen Auswirkungen auf das Menschsein schlechthin.

[Siehe auch: Christian Leineweber und Claudia de Witt, Hgg., Digitale Transformation im Diskurs. Kritische Perspektiven auf Entwicklungen und Tendenzen im Zeitalter des Digitalen, Online-Sammelband, Fernuniversität Hagen, 11.09.2019 (https://www.fernuni-hagen.de/bildungswissenschaft/bildung-medien/medien-im-diskurs/digitale-transformation.shtml)]

Die Optimisten beziehen sich dabei auf Erfahrungen aus den vorangegangenen, als industrielle Revolutionen definierten, technologischen Umbrüchen. Diese besagen, dass in der Folge solcher Ereignisse stets Arbeitsplatzverluste, soziale Probleme bis hin zu kompletten Entwurzelungserscheinungen, wie etwa Mitte des 19. Jahrhunderts, aufgetreten sind, dass aber nach einer gewissen Konsolidierungsphase jeweils mehr Arbeitsplätze als vorher geschaffen wurden, mit deutlichen Wohlstandsgewinnen. In der Fortschreibung solcher Entwicklungen gelte das auch für die Digitalisierung. Es gäbe also keine historische Referenz dafür, dass durch Digitalisierung und durch zunehmenden Einsatz von Künstlicher Intelligenz die Betätigungsräume des Menschen in den Wertschöpfungsketten deutlich verringert würden. [Siehe auch Benedikt Herles, Paradox unproduktiv: die Digitalisierung und die Produktivität, in Capital, 30.10.2019 (https://www.capital.de/wirtschaft-politik/paradox-unproduktiv-die-digitalisierung-und-die-produktivitaet)]

Dazu ist freilich zu bedenken, dass es für die Digitalisierung inklusive Künstlicher Intelligenz insgesamt überhaupt keine historische Referenz geben kann, weil dieser Umbruch massiv und tiefgreifend alle bisherigen Umschwünge in den Schatten stellen wird. Den einzigen Vergleichsmaßstab bietet der wissenschaftlich-technische Fortschritt im Zeitraum der letzten beiden Generationen. Diese enorme Entwicklung wirft einen Schlagschatten auf zu Erwartendes für die nächsten zwei Generationen.

Hinter dem Horizont warten bereits die Transhumanisten

Momentan läuft gerade auf breiter Front ein Digitalisierungsschub von Produktions- und Geschäftsprozessen, aber auch des persönlichen Lebens sehr vieler Menschen. Verbunden ist dies mit einem geradezu gigantischen Wachstum des weltweiten Datenvolumens. 2016 lag dies noch bei ›bescheidenen‹ 16 Zettabyte (die Zahl hat 21 Nullen am Ende). Im Jahr 2025 soll dieses nach Schätzungen des amerikanischen Festplattenherstellers Seagate und des IT-Marktbeobachtungshauses IDC auf 163 Zettabyte anwachsen. Selbst diese Zahl wurde inzwischen längst korrigiert und auf 175 Zettabyte angehoben. (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/267974/umfrage/prognose-zum-weltweit-generierten-datenvolumen/).

Wenn sich auch die Digitalisierung momentan noch nicht in Produktivitätsfortschritten niederschlägt, kann sie viel unmittelbarer in administrativen und gesellschaftlich relevanten Bereichen durchschlagen, mit Kontroll- und Regulierungsalgorithmen, verbunden mit Verhaltensbewertungen. Unter dem Label Digitalisierung wird sich das Leben der Menschen in der Arbeitswelt und im Privaten grundlegend verändern. Auch unter dem Aspekt der gegenwärtigen Corona- und Klimahysterie sowie in Erwartung einer durch die sogenannte Energiewende hervorgerufene Verknappungskrise werden umfangreiche Kontrollaufgaben erwachsen. Autonomes Fahren, autonomes Fliegen stehen, abgesehen von deren Sinnhaftigkeit, dafür nur symbolhaft am Anfang von weiterführenden Digitalisierungsschüben. Es wird eine Vielzahl sogenannter innovativer Services geben, die uns das Leben einerseits erleichtern und es zugleich erschweren. Es wird nahezu keinen Lebensbereich mehr geben, in dem nicht irgendein ›Assistent‹ kontrolliert, lenkt und leitet. Und hinter dem Euphoriehorizont warten bereits die Transhumanisten, um ihre Art der Menschheitsbeglückung endgültig umzusetzen. Dabei soll es um eine Verschmelzung von menschlicher mit Künstlicher Intelligenz gehen, ein Projekt, welches schon lange auf vielfältige Weise weltweit vorangetrieben wird, um unter dem Deckmantel, die Welt stets ein wenig besser machen zu wollen, letztlich jedoch einer abgehobenen Elite so etwas wie Unsterblichkeit zu verleihen. Aber das ist dann schon ein anderes Kapitel.

Geschrieben von: Rauprich Wolfgang
Rubrik: Gesellschaft