von Hans-Otto Hemmer

 Eines der ganz wenigen Fotos aus der jüngeren Geschichte des DGB, das sich allgemein eingeprägt hat, zeigt den lachenden ÖTV-Vorsitzenden Heinz Kluncker, der dem DGB-Vorsitzenden Ernst Breit einen Kehrbesen überreicht. Das Foto wurde beim DGB-Kongress von 1982 in Berlin aufgenommen – kurz nach Breits Wahl zum neuen DGB-Vorsitzenden und Nachfolger Heinz Oskar Vetters. Es symbolisiert Klunckers Wunsch und Aufforderung, den Augias-Stall ›auszumisten‹, zu dem der DGB nach seiner Auffassung durch den Neue-Heimat-Skandal geworden war.
Breit wäre es sicher lieber gewesen, wenn diese Geste unterblieben und das Foto nicht entstanden wäre. Im Unterschied zu seinem Freund Kluncker fehlte ihm die Lust an der Provokation und es war ihm bewusst, dass er, wie alle seine Vorgänger im DGB-Vorsitz, auch in dieser exzeptionellen Lage ein Meister des Ausgleichs würde sein müssen. Ist er es geworden?

Erinnerung

Die autobiografische Abstinenz bei führenden Gewerkschaftern der deutschen Gewerkschaftsbewegung seit deren Anfängen im 19. Jahrhundert ist auffallend. Sie ist mit dem Vorrang der Kollektivität, mit der durchweg proletarischen Herkunft auch der Spitzenfunktionäre sowie mit einer spezifischen ›Sprachlosigkeit‹ zweifellos zutreffend erklärt worden. Schaut man ein bisschen genauer auf die Lebensläufe dieser Gruppe von Gewerkschaftern, erkennt man einen weiteren Grund, der Autobiografien verhinderte: Etliche dieser Männer (es waren durchweg Männer) sind früh und/oder im Amt verstorben. Bei den Vorsitzenden der (frei-)gewerkschaftlichen Bünde trifft das etwa für Carl Legien, für Hans Böckler und Heinz-Werner Meyer zu. Von den Vorsitzenden der Metallarbeitergewerkschaften gehören Robert Dißmann und Otto Brenner in diese Reihe. Der DGB-Vorsitzende Ludwig Rosenberg hingegen, ein literarisch interessierter und schriftstellerisch begabter Gewerkschafter, lehnte es prinzipiell ab, eine Autobiografie zu verfassen.
Es gibt also – in mehr als 100 Jahren Gewerkschaftsgeschichte – keine Autobiografie eines Mannes oder einer Frau aus der ersten Reihe – und auch bei den Funktionären der Ränge darunter ist sie, wie die knappe Darstellung des Gründers des ersten Berliner Gewerkschaftshauses und international tätigen Funktionärs Johannes Sassenbach, die Erinnerungen des Bergarbeiterfunktionärs Adam Wolfram oder die voluminöse Lebensgeschichte von Kurt Hirche, dem langjährigen Leiter der Parlamentarischen Verbindungsstelle des DGB in Bonn, die Ausnahme.
Eine Art ›Notlösung‹ stellen die biografischen Darstellungen von Mitstreitern oder Mitarbeitern dar, so Theodor Leiparts Buch über Carl Legien; das von Walter Arendt und Horst Niggemeier betreute Lebensbild August Schmidts oder die von Adolf Mirkes bearbeiteten und herausgegebenen Erinnerungen Josef Simons. In jüngerer Zeit gibt es auch etliche knappe publizistisch-journalistische Versuche, Leben und Werk von Gewerkschaftern zu würdigen – Beispiele dafür sind Bücher über Walter Freitag, Ludwig Rosenberg, Heinz Oskar Vetter und Klaus Zwickel, auch über Ernst Breit gibt es eine solche Würdigung. Das Genre der wissenschaftlichen Biografie von führenden Gewerkschaftern begründete Ulrich Borsdorf mit seinem Maßstäbe setzenden Werk über den DGB-Gründungsvorsitzenden Hans Böckler. Ihm folgt die biografische Würdigung des DGB-Vorsitzenden Willi Richter von Gerhard Beier. Nach diesen Pioniertaten dauerte es geraume Zeit, bis sich die Geschichtswissenschaft der Biografie von Gewerkschaftern erneut verstärkt und mit systematischem Interesse annahm: Inzwischen liegen beachtliche Biografien u.a. zu Carl Legien/Theodor Leipart, Hans Gottfurcht, Otto Brenner und Eugen Loderer vor. Andere, etwa zu Robert Dißmann, sind in Arbeit.
Einige Gewerkschafter, die nicht selber autobiografisch schreiben wollten oder konnten, haben ausführliche Interviews oder Gespräche mit Autoren geführt, die dann, oft zusammen mit anderen authentischen Texten des Befragten, zu semi-autobiografischen Darstellungen verarbeitet wurden. Der Prototyp dieser Behelfs- oder Zwischenform ist der von Christian Götz erarbeitete Band über den DGB-Vor­sitzenden Heinz Oskar Vetter. Ein neueres Beispiel ist der Band Auf die Wirkung kommt es an über den langjährigen ÖTV-Vorsitzenden Heinz Kluncker.
Auch Ernst Breit, Jahrgang 1924, DGB-Vorsitzender von 1982 bis 1990, gehört zu den Gewerkschaftern, die keine Autobiografie schreiben wollen, auch keine Elemente dazu. Anders als Kluncker, der gerne über die Tarifpolitik im öffentlichen Dienst, insbesondere unter dem Reichskanzler Heinrich Brüning, hätte schreiben wollen und dazu auch schon mancherlei Vorarbeiten geleistet hatte, hat Breit keinen schriftstellerischen Ehrgeiz. Das mag angesichts der Vielzahl von belang- bis wertlosen Erinnerungen selbst junger und jüngster ›Prominenter‹ sympathisch wirken, ist allerdings der Sache nach ärgerlich und schade. Es war auch nicht ganz einfach, Breit zu einem ausführlichen lebens­geschichtlichen Gespräch zu bewegen. Glücklicherweise ist es schließlich doch gelungen. Woran mag diese Zögerlichkeit, die Zurückhaltung liegen?
Zunächst ist da das alte, höchst ehrenwerte Motiv führender Menschen der Gewerkschaftsbewegung, sich nicht in den Vordergrund zu spielen. Das hat mit Solidarität, Gleichheit und Demut zu tun. Bei Ernst Breit kommt sicher ein lands­mannschaftlicher Einschlag hinzu: Der wortkarge Dithmarscher spricht schon gar nicht gern über sich selbst. Und schließlich ist da die trügerische Erinnerung: Der 85-Jährige, der beinahe 50 Jahre lang gewerkschaftliche Funktionen ausgeübt hat, kennt die Unschärfen, die Untiefen, die Unwägbarkeiten seines Erinnerungs­vermögens.
Hier nun sind wir bei einer zentralen Problematik der Befragung von Zeitzeugen, der oral history allgemein: der Erinnerung. Ihre Systematik, ihre Möglichkeiten und vor allem ihre Grenzen sind inzwischen subtil und facettenreich erforscht und erfasst, mit einigermaßen ernüchternden Ergebnissen, etwa »dass von einer authentischen Erinnerung an die Situation und das Geschehen, die sich bei jemandem als eine Erfahrung niedergeschlagen haben, nun im seltenen Grenzfall auszugehen ist.«
Die Lebenserfahrung bestätigt »den trügerischen Charakter unserer Erinnerungen«, und der Zeitzeuge ist geradezu als ›Feind‹ des professionellen Historikers charakterisiert worden, dem die materiellen und insbesondere die schriftlichen und amtlichen Quellen nach wie vor verlässlicher sind. Breits Zurückhaltung und die Reserve der Fachleute passen also zusammen, auch seine ›Erinnerungslandschaft‹ entspricht durchaus dem, was Forschung darüber herausgefunden hat. Da ist jene »für das junge Erwachsenenalter typische(n) Erinnerungsverdichtung«, die die Teilnahme am Zweiten Weltkrieg und die unmittelbar darauf folgende Zeit betrifft.
Danach gibt es lange Strecken, die weitaus weniger gut beleuchtet erscheinen, geprägt von einer Fülle verschiedener Aufgaben, einer Unzahl von Menschen, der über viele Jahre kaum selbstbestimmbaren Terminplanung eines politisch Verantwortlichen – ohne genügend Ruhe und Muße, um Erlebtes und Erfahrenes nachdenklich zu stabilisieren.
Spätestens seit Nietzsche wissen wir: »Vergessen und Erinnern gehören zusammen und zwar derart, dass ein gelebtes, dem Leben zugehöriges Erinnern immer nur zusammen mit dem Vergessen möglich ist.« Ernst Breit räumt unumwunden ein, dass er vieles vergessen hat – auch Wichtiges, gerade aus der Rückschau Bedeutsames, etwa in der Arbeitszeitfrage, dem Gemeinwirtschafts-Skandal und weiteren Feldern der ›großen Politik‹. Über den Zusammenhang zwischen Erinnern und Vergessen haben Neurowissenschaften, Kultur-, Geschichts- und Gesellschafts­wissenschaften inzwischen viel herausgefunden – er ist komplex und schwierig, auch individuell unterschiedlich ausgeprägt. Ein Ergebnis unter vielen geht dahin, »dass die emotionale Tönung eines Erlebnisses und der Situation seiner Erinnerung richtig für die Reichhaltigkeit und Präzision des Erinnerten ist.« Man kann davon ausgehen, dass Pflicht und Alltag selbst einen gewerkschaftlichen Spitzenfunktionär nur im Ausnahmefall emotional besonders berühren.

Generation

»Generationen sind die eigentlichen Träger kollektiver Erinnerung« sagt Heinz Bude. Generationenbegriff und Generationenforschung sind in jüngster Zeit wieder so sehr in Mode gekommen, dass Bernd Weisbrod warnt: »Es gilt ..., vorsichtiger zu sein im Umgang mit dem Generationsbegriff.« Und in der Tat: Schon bei der Jahrgangseingrenzung fangen die Differenzen an und sie hören bei der Einschätzung der Wirkmächtigkeit noch lange nicht auf. Legt man die Ergebnisse von Dirk Moses und Ulrich Herbert zugrunde, kann man Ernst Breit unzweifelhaft der Generation der ›45er‹, also einer der drei politischen Generationen des vergangenen Jahrhunderts zurechnen, und zwar der »vermutlich einflussreichste(n) politische(n) Generation des 20. Jahrhunderts«.
Breit wurde 1924 geboren, durchlief Volks- und Realschule, begann eine Lehre bei der Post und wurde 1942 zur Wehrmacht eingezogen. Noch nicht 20 Jahre alt, ist er in militärischer Ausbildung und im Kriegseinsatz in Dänemark, in Kreta, in Italien, in Pommern, in Süddeutschland und in Holland, wird schließlich zum Offizier befördert. Bereits im Sommer 1945 kehrt er wieder nach Hause zurück, beendet seine Ausbildung, heiratet bald und beginnt die Arbeit im erlernten Beruf.
Die Hinwendung zur Gewerkschaftsarbeit resultiert in erster Linie aus Gerechtig­keitsgefühl, aber auch aus der Möglichkeit, lebenspraktisch etwas für andere tun zu können und aus Eigeninteresse. Sie überwiegt seit den fünfziger Jahren die Berufsarbeit und wird in konsequenten Aufstiegsstufen über mehrere Jahrzehnte Lebensinhalt und -mittelpunkt. Viele Gewerkschaftsfunktionäre aller Ebenen, viele Betriebsräte hatten ganz ähnliche Lebensläufe – wie übrigens die Funktionäre anderer Organisationen, wie Politiker, Unternehmer, Handwerker, Arbeitnehmer. Viele von ihnen durchaus angezogen und geprägt von den NS-Angeboten und -verführungen für Jugendliche, gezeichnet vom frühen Kriegseinsatz, von vielfacher Enttäuschung und bitterer Niederlagen, sodann entschlossen zu vergessen, besser zu machen, aufzubauen, Erfolg zu haben. Das alles entspricht durchaus jenem Muster, das Ulrich Herbert als charakteristisch für die ›45er‹ kennzeichnet: »die strikte Orientierung am eigenen Fortkommen, an beruflichem Aufstieg und sozialer Kernsolidierung«, sodann dem »Hang zum Praktischen, Reformwirken, Nichtideologischen« und schließlich »eine ausgesprochen positive Haltung gegenüber dem Projekt eines sich vereinigenden Europas.«
Ebenso treffen die Befunde von Rolf Schörken, die er den »kleinsten gemeinsamen nenner in Lebensgefühl und Bewußtseinslage« der Jugendgeneration 1945 nennt, auf Breit zu: Da ist neben dem »Bewußtsein der verlorenen Jahre« das »Gefühl des Betrogenwordenseins«, das tiefe »Erschrockensein« und die Gewissheit, ›Opfer‹ geworden zu sein. Alles zusammen genommen führt auch im Fall Ernst Breit, wie in unzähligen anderen Fällen, zu jener wirksamen ›Neuorientierung‹, der »als Anstoß das weitere Leben bestimmt«.
Das gilt, jedenfalls in den Grundzügen, für eine Reihe von führenden Gewerk­schaftsfunktionären der Nachkriegszeit, allerdings lassen sich bei genauerem Hinschauen relevante Binnen-Nuancierungen beobachten. So etwa bei dem Dreigespann Heinz Oskar Vetter (Jg. 1917), Ernst Breit (Jg. 1924) und Heinz Kluncker (Jg. 1925). Alle drei spielen führende Rollen im Rahmen des DGB und beim Wechsel im Amt des DGB-Vorsitzenden 1982 von Vetter zu Breit sind sie Hauptakteure.
Die drei Männer kennen sich lange: Vetter und Kluncker haben als junge Funk­tionäre gemeinsam einen der ersten Kurse an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg besucht; Breit und Kluncker haben sich im monatlich tagenden, von Vetter geleiteten DGB-Bundesvorstand kennengelernt (wo sie nebeneinander sitzen), nachdem Breit 1971 zum Vorsitzenden der Deutschen Postgewerkschaft gewählt worden war.
Breit und Vetter, die aus bürgerlich (Vetter)/handwerklichen (Breit) Milieus im Ruhrgebiet (Vetter) und in Norddeutschland (Breit) stammen, hatten vor 1933 keinerlei Berührung mit Gewerkschaften oder Parteipolitik. Kluncker stammt aus einer alten sozialdemokratischen Arbeiterfamilie Wuppertals. Alle drei – Kluncker im Streit mit seiner Familie – gehörten den nationalsozialistischen Kinder- bzw. Jugendorganisationen an und wurden Soldaten.
Breit erlebte das Kriegsende als Offizier in Holland, Vetter als Offizier in englischer Kriegsgefangenschaft, Kluncker als Deserteur in amerikanischer Kriegsgefangen­schaft. Alle drei kehrten früh – Breit bereits im Sommer 1945 – in ihre Heimatorte zurück. Dort begannen sie einen beruflichen Neuanfang (Kluncker), setzten ihre beruflichen Anfänge fort (Breit und Vetter) und legten die Grundlage für ihre Karrieren in der Gewerkschaftsbewegung.
Weisen allein die wenigen hier genannten Lebensdaten die drei Männer als Vertreter der ›45er-Generation‹ aus, ergeben sich in der Dreierkonstellation doch markante Differenzen.
Ernst Breit ist eindeutig der ruhende Pol: Er versteht sich mit Vetter und Kluncker gleichermaßen, wobei der ÖTV-Vorsitzende ihm, nicht zuletzt wegen vieler Gemeinsamkeiten in der Tarifpolitik, aber auch menschlich näher ist. Kluncker schätzt Breit wegen seiner Verlässlichkeit und seiner Ausgeglichenheit, während er Vetter für einen ›Hallodri‹ hält – und später sogar Korruption nicht ausschließt. Vetter schätzt Breit wegen seiner Ausgeglichenheit und Verlässlichkeit; verbindliche Aussagen über Kluncker sind nicht verbürgt.
Mögen sich derartige Ab- und Zuneigungen zu einem größeren Prozentsatz auf die Persönlichkeit- und Charaktereigenschaften der Beteiligten zurückführen lassen, so sind darin zumindest auch Spurenelemente generationeller Eigenarten enthalten. So pflegten Kluncker und Breit selbst in geselligen gewerkschaftlichen Runden kaum bis gar nicht von Kriegserlebnissen zu berichten, während Vetter gelegentlich durchaus zu renommieren wusste, meist im Verein mit Kollegen ähnlicher Erfahrung. Kluncker missbilligte diese Attitüde schärfstens und in der Rückschau attestierte er Vetter zwar Schlagfertigkeit, allerdings »im Stil eines militärischen Vorgesetzten und damit systemgläubigen Offiziers.« Hier wird ein relevanter Aspekt der Selbsteinschätzung einer Gruppe sichtbar. Kluncker bezweifelte wohl, dass es bei Vetter tatsächlich »zu einer Neudefinition des eigenen Ich« gekommen sei, deshalb habe er ihm »mehrfach geraten, er solle seine militärische Vergangenheit endgültig entsorgen.« Bei Ernst Breit sah er eine solche Notwendigkeit nicht.
Immerhin: Heinz-Oskar Vetter, den man aufgrund seines Geburtsjahrs 1917 gerade noch oder gerade nicht mehr zu den 45ern zählen mag, hatte in den 13 Jahren seiner Amtszeit als DGB-Vorsitzender dieser Position und auch sich selbst intern wie extern Ansehen und Respekt erworben. Entsprechend tief war sein Fall im Neue-Heimat-Skandal und entsprechend groß die Aufgabe für den ihm folgenden 45er, den bisherigen Vorsitzenden der Deutschen Postgewerkschaft, Ernst Breit, Jahrgang 1924. Er ist der erste Beamte an der Spitze des DGB, ja im Vorsitz aller freigewerkschaftlichen Dachverbände seit deren Gründung. Das ist für die immer noch von der Großindustrie geprägte deutsche Gewerkschaftsbewegung ein relevantes Novum, das auf ihre Lage und deren Konsequenzen hindeutet. Während Breits Amtszeit wird es innerhalb der DGB-Gewerkschaften zu größeren Generationswechseln kommen und erstmalig wird mit Monika Wulf-Mathies eine Frau Vorsitzende einer großen DGB-Gewerkschaft, der ÖTV.

Der DGB-Vorsitzende Breit

Von den drei markantesten Herausforderungen für den von 1982 bis 1990 amtierenden DGB-Vorsitzenden Ernst Breit resultierten zwei aus ›Jahrhundertereignissen‹: dem – beginnend mit dem »Neue-Heimat-Skandal« – vollständigen Niedergang der gewerkschaftlichen Gemeinwirtschaft sowie der deutschen Einheit. Die dritte Herausforderung – Debatte und Kampf um Arbeitszeitverkürzung – war, da es darum auch erhebliche innergewerkschaftliche Auseinandersetzungen gab, von ähnlicher Dimension.
a) Neue Heimat und Gemeinwirtschaft
Der Niedergang der Gemeinwirtschaft vollzog sich während der gesamten Amtszeit Breits – vom ersten Neue-Heimat-Bericht des Spiegel im Februar 1982 über den Verkauf von BfG und Volksfürsorge bis zum Ende der coop AG 1989. Es war das größte selbstverschuldete Debakel und wohl auch der schlimmste hausgemachte finanzielle Aderlass in der Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung.
Ernst Breit war auch deshalb in dieser Zeit der geeignete (vielleicht sogar der einzig mögliche) Repräsentant der Gewerkschaften, weil er nur wenig mit der Gemein­wirtschaft und deren Institutionen verbunden war. Als Vorsitzender der Postgewerk­schaft war er zuvor zwar Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat der Neue-Heimat-Gemeinnützig gewesen, aber er hatte zum Beispiel, anders als viele gewerk­schaftliche und sozialdemokratische Funktionäre, keine privaten Beziehungen zum Baukonzern. Da die Post eigene Bauaktivitäten betrieb, blickte die zuständige Gewerkschaft eher in diese Richtung, da viele Mitglieder in entsprechenden Wohnungen wohnten. Die Neue Heimat hingegen lag weitgehend oder ganz außerhalb des Interessenhorizonts. Auch hatte sich Breit an keinerlei Baumaß­nahmen beteiligt, die steuerliche Vergünstigungen brachten, was seinem Vorgänger Vetter zum politischen Schaden gereicht hatte.
An der Integrität, Seriosität und Solidität dieses DGB-Vorsitzenden bestand keinerlei Zweifel, auch die einschlägige Presse kam bei ihm nicht auf ihre Kosten. Obwohl das ein wichtiger Aspekt und ein relevanter Vorteil nach innen und außen war, änderte es nichts daran, dass der Neue-Heimat-Skandal und der sich anschließende Verfall der Gemeinwirtschaft insgesamt verheerende Konsequenzen in der Mitgliedschaft ebenso wie in der Gesellschaft hatten.
Während der DGB-Vorsitzende Vetter noch sämtliche Aufsichtsratsvorsitze der Gemeinwirtschaft wahrgenommen hatte (immerhin 6 an der Zahl), beschränkte sich Breit auf den Aufsichtsratsvorsitzenden bei der Beteiligungsgesellschaft für Gemeinwirtschaft AG (BGAG). Er versuchte nicht, das ›Krisenmanagement‹ an sich zu reißen und sich in das Tagesgeschäft der Neuen Heimat einzumischen, sondern unterstützte zunächst den neuen Vorstandsvorsitzenden der Neuen Heimat, Diether Hoffmann, ehemals Vorstandsvorsitzender der Bank für Gemeinwirtschaft, in seinem Bemühen, eine politische Lösung für die Stabilisierung des angeschlagenen Baukonzerns zu erreichen. Aufgrund der unvergleichlichen Dimension und des unabsehbaren Ausmaßes des Desasters schienen dem DGB-Vorsitzenden für seine Rolle und sein Handeln diese Eckpunkte wichtig: das Ansehen der Gewerkschaften, das Wohl der Arbeitnehmer und der Mieter der Neuen Heimat, eine einvernehmliche Problemlösung zusammen mit der Politik. Angesichts der Interessenlage der neuen konservativ-liberalen Bundesregierung, aber auch vieler Landesregierungen und zwar auch sozialdemokratisch geführter, erwies sich eine Lösung mit Unterstützung der Politik, etwa durch steuerliche oder gesetzliche Maßnahmen oder »durch den Verkauf von Unternehmensteilen und Wohnungsbeständen an die öffentliche Hand«, spätestens im Frühjahr 1986 als nicht durchsetzbar.
Auch Ernst Breit hat die Reserve der Regierungspolitik schon bald zu spüren bekommen: Nachdem Bundeskanzler Kohl beim Antrittsbesuch des DGB-Vorsitzenden mit ihm gemeinsam vor die Presse gegangen war, lehnte Kohl es bei späteren Gelegenheiten ab, zusammen mit dem DGB-Vorsitzenden öffentlich aufzutreten. Und Konservative und Liberale erkannten schnell, welches antigewerkschaftliche und -sozialdemokratische Potential im Neue-Heimat-Skandal steckte. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass die massiven Versuche Diether Hoffmanns, eine politische Lösung der NH-Misere herbeizuführen, im Frühjahr 1986 ebenso scheiterten wie die diskrete Hilfestellung des DGB und seines Vorsitzenden dabei. Auch der sich anschließende ökonomische Lösungsversuch, diesmal unter Federführung der BGAG, der vom DGB und seinem Vorsitzenden unauffällig flankiert wurde, endete im Fiasko: Am 16. September 1986 wurde die NH Gemeinnützig für den symbolischen Betrag von einer D-Mark an den Berliner Unternehmer Horst Schiesser verkauft. Dieser damals spektakuläre Verkauf eines Konzerns an einen weithin unbekannten Großbäcker ging zwar »zu einem nicht geringen Teil auf Alfons Lappas zurück«, musste nun aber in der Öffentlichkeit im Wesentlichen vom DGB-Vorsitzenden vertreten werden. Breit, der bei den ersten Informationen über einen möglichen Verkauf an Schiesser Bedenken hinsichtlich dessen Seriosität geäußert hatte, hatte sich in der entscheidenden Aufsichtsrats­sitzung, wie andere Teilnehmer auch, von Alfons Lappas davon überzeugen lassen, dass die Banken dieser Lösung zustimmen würden. Die Banken machten dann de facto doch nicht mit, sodass der Verkauf an Schiesser am 12. November 1986 rückgängig gemachten werden musste. Zu Ende des Jahres 1986 und am Beginn des Jahres 1987 – im Januar 1987 waren Bundestagswahlen – eskalierte die politische Auseinandersetzung um die Neue Heimat. Im August 1986 hatte ein Untersuchungsausschuss des Bundestages »Neue Heimat« seine Arbeit aufge­nommen. Als Alfons Lappas sich im Oktober weigerte, dort auszusagen, wurde er in einer spektakulären Aktion beim Gewerkschaftskongress der IG Metall am 19. Oktober 1986 in Hamburg festgenommen. Er wurde zwar zwei Tage später entlassen und trat wenige Wochen später von seinem Amt als BGAG-Vorsitzender zurück, aber spätestens nun war »das Thema Neue Heimat in all seinen Schattie­rungen ... ein Politikum ersten Ranges«.
Immerhin: Nach den Bundestagswahlen im Januar 1987, die von der Koalition aus CDU/CSU und FDP gewonnen wurden, »erlahmte des bundespolitische Interesse am Schicksal der Neuen Heimat deutlich.« Es begann die ›Abwicklung‹ des Konzerns, diesmal unter – mehr oder weniger – erfolgreicher Einbeziehung der Bundesländer und auch der Banken, denen wohl nicht zuletzt durch das Kapitel Schiesser klar geworden war, dass sie nicht auf Dauer würden abseits bleiben können. Die Übernahme des BGAG-Vorsitzes durch Hans Matthöfer, ehemals Bundesfinanzminister und die Berufung des Bankers Heinz Sippel zum Treuhänder der Neuen Heimat trugen überdies dazu bei, Ruhe und Kontinuität in die weiteren Abläufe zu bringen. Bis 1990 (späte Ausläufer bis 1998) wurde die Neue Heimat, durchweg im Rahmen von Regionallösungen, ›abgewickelt‹. Alle anderen Bereiche der Gemeinwirtschaft kommen nach und nach auch zu Fall: 1987 wurden 50 Prozent plus eine Aktie der BfG an die Aachener und Münchener Beteiligungs-AG verkauft (später wird die BfG an den Crédit Lyonnais verkauft); 1988 ging auch die Mehrheit der Volksfürsorge an die AMB (später dann an Generali); im Oktober 1988 enthüllte der Spiegel die Lage der coop AG: »ein durch Bereicherung und riesige Schulden innen ausgehöhlter Komplex, der wie ein Kartenhaus zusammenzufallen drohte«. 1989 wurden ihre Reste verkauft, ihr ehemaliger Vorstandsvorsitzender Bernd Otto wurde 1993 vom Schwurgericht Frankfurt a. Main zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.
Im Rückblick auf diese Wegstrecke ist deutlich erkennbar, dass »die Neue Heimat die Idee der Gemeinwirtschaft begraben« hatte und Ernst Breit resümierte, »dass Gewerkschaft als Unternehmer nicht sonderlich geeignet« seien.
So wenig wieder DGB-Vorsitzende den Skandal um die Neue Heimat hatte verhindern können, so wenig konnte er den daraus resultierenden Niedergang der Gemeinwirtschaft abwenden, denn »dieser berühmte ›dritte Weg‹, in einer Marktwirtschaft bessere Leistungen zu niedrigeren Preisen und günstigeren Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten anzubieten, dieser Weg hat sich als nicht gangbar erwiesen.« Breit blieb also nichts anderes übrig, als den desaströsen Prozess zu mildern, abzufedern, zu gestalten, zu erklären.
Er hat das nach Kräften getan, ein Großteil seiner Arbeitskraft ist in diese Aufgabe geflossen. Er hat unzählige Veranstaltungen mit Mitgliedern und Mietern zu dieser Thematik abgehalten, hat immer wieder mit den Mitarbeitern der gemeinwirt­schaftlichen Unternehmen gesprochen, er hat an unzähligen Gremiensitzungen teilgenommen, hat Untersuchungsausschüssen Rede und Antwort gestanden, hat die Presse informiert und mit ihr gesprochen. Die Verantwortlichen der Einzel­gewerkschaften, von denen einige finanziell zumindest ebenso betroffen waren wie der DGB, waren wohl ganz froh, in dieser Lage Unangenehmes an den DGB delegieren zu können. Sie hatten nichts dagegen, wenn sie sich im Hintergrund halten konnten.
Auch wenn niemand an Ehrlichkeit und gutem Willen Breits zweifelte: den gravie­renden Ansehensverlust der Gewerkschaften konnte auch er nicht verhindern.
Aber nach dem Rückkauf der NH von Schiesser trug er ganz maßgeblich dazu bei, einen konstruktiven Neuansatz zu finden. So machte er es sich zur Aufgabe, Hans Matthöfer, damals Schatzmeister der SPD, für die Funktion des BGAG-Vorsitzenden zu gewinnen. Breit erinnert sich, dass er deshalb zum SPD-Vorsitzenden Willy Brandt nach Unkel fuhr und dessen Frau Brigitte Seebacher beschreibt die Szene so: »Kein noch so großer Vorbehalt gegen Organisationen, die in der Tradition versteinert, trübte seine (W.B.) Zuneigung zu Gewerkschaften, die sich und anderen treu geblieben waren. Ernst Breit empfing er auch zu Hause, einmal zu der Zeit, als Unkel, infolge des Chemieunfalls am Rhein, von seinem Trinkwasser abgeschnitten war. Es klingelte und W. sah nach unten. Dort stand der DGB-Chef mit zwei schweren Kanistern Wasser: Mensch, Ernst. Der rief laut zurück: Ich dachte, die könntet ihr jetzt brauchen, ich bin ein alter Camper.« Brandt stimmte dem Wechsel Matthöfers zu, gegen erhebliche Widerstände aus der SPD.
Es war nicht zuletzt Breits Verdienst, »dass die Abwicklung der Neuen Heimat zu einer in der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte sicherlich einzigartigen, wenn nicht sogar ›vorbildlichen‹ Abwicklung« wurde.
So ist zwar während seiner ›Regierungszeit‹ mit der Gemeinwirtschaft ein ideeller und materieller Pfeiler der deutschen Gewerkschaftsbewegung weggebrochen – mit erheblichem politischen und finanziellen Konsequenzen für die Gewerkschaften, die das Ganze wohl alles in allem etwa 4 Milliarden DM gekostet hat, aber immerhin ohne verheerende Folgen etwa für Mieter und Beschäftigte.

b) Arbeitszeitverkürzung
Das dominante gewerkschaftspolitische Thema der 1980er Jahre war die Arbeitszeitverkürzung. Der soeben gewählte DGB-Vorsitzende Ernst Breit sagte dazu in seiner Rede beim DGB-Kongress 1982 in Berlin: »Es ist ebenso unverständlich wie gesellschaftspolitisch fahrlässig, ein Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, nämlich die Arbeitszeitverkürzung ... immer noch zum Tabu zu erklären. Aber neu ist das ja nicht: Arbeitszeitverkürzung durchzusetzen war schon immer eine schwierige Sache; man denke nur daran, wie lange in früheren Zeiten die Arbeitgeber zäh und verbissen den Zwölfstundentag verteidigt haben. Nun finden wir heute veränderte Rahmenbedingungen vor: Wachsende Arbeits­losigkeit, nach wie vor zu verzeichnende Fortschritte der Produktivität und nach wie vor festzustellende Stagnation beim Wachstum machen nun einmal die ernsthaftesten Überlegungen darüber notwendig, wie wir weniger Arbeit auf eine größere Zahl von Menschen verteilen können, die arbeiten wollen und auch arbeiten müssen. Gewiß, das Thema der Arbeitszeitverkürzung ist differenziert zu betrachten. Von Branche zu Branche, von Industriezweig zu Industriezweig muß es den zuständigen Tarifvertragsparteien überlassen bleiben, sich dieses Themas anzunehmen.«
Dieser Kongress verabschiedete später einen Antrag zur Arbeitszeitverkürzung, »der alle im DGB vertretenen Positionen enthielt.« Sie reichten von der schrittweisen Verkürzung der Wochenarbeitszeit mit dem Ziel 35-Stunden-Woche bis zur Verkürzung der Lebensarbeitzeit – in verschiedenen Varianten. Der Hintergrund für diese Unterschiedlichkeit sind etwa unterschiedliche Beschäftigtenstrukturen und Altersschichtungen in den jeweiligen gewerkschaftlichen Organisationsbereichen. Auch wenn es angesichts dieser Interessenlage keinen ›Formelkompromiss‹ geben konnte, musste der DGB versuchen zu koordinieren. Ernst Breit war sich dieser Aufgabe bewusst und hat sie erfüllt.
Auch wenn er sich in einem grundsätzlichen Text 1984 ausführlich und gründlich mit der 35-Stunden-Woche auseinandersetzte, zu der sich die IG Metall nach einer kontroversen internen Debatte entschieden hatte, vergaß er nicht, mögliche Vorruhestandsregelungen und jene Gewerkschaften zu erwähnen, »die sich die Verkürzung der Lebensarbeitzeit aktuell zum Ziel gesetzt haben.«
Und auch nach dem Streik von IG Druck und Papier und IG Metall für die 35-Stunden-Woche im Frühjahr/Sommer 1984, die mit dem Kompromiss einer 38,5-Stunden-Woche endeten, formulierte der DGB-Vorsitzende ausgleichend: »Sicher gibt es kein schnell wirkendes Wundermittel gegen die Arbeitslosigkeit. ... Eines der wichtigsten und wirksamsten Instrumente ist und bleibt die Arbeitszeit­verkürzung – in ihren verschiedenen Formen. Die vereinbarten Vorruhestandsregelungen belegen das ebenso sehr wie die – gegen den hinhaltenden Widerstand der Unternehmer und bei schriller Begleitmusik seitens der Regierung – erkämpfte Wochenarbeitszeitverkürzung.«
Während es dem DGB-Vorsitzenden gelang, das Thema der Arbeitszeitverkürzung nach außen differenziert und ohne Konfliktpotential darzustellen, gab es intern durchaus ein Hauen und Stechen der ›Arbeitszeit-Fraktionen‹, das Breit nur mit Mühe einigermaßen unter Kontrolle halten konnte. Ein markanter Ausdruck dieser Kontroverse war die Tatsache, dass zwei DGB-Gewerkschaften (Nahrung-Genuss-Gaststätten sowie Textil und Bekleidung) vor dem Streik und während des Streiks von IG Druck und Papier und IG Metall im Mai und Juni 1984 Tarifvereinbarungen über den Vorruhestand abschlossen.
Auch in der Arbeitszeitfrage kam es nicht zu einer gedeihlichen Zusammenarbeit etwa zwischen DGB-Vorsitzendem und Bundeskanzler oder Bundesregierung. Helmut Kohl erwähnt Ernst Breit in seinen Erinnerungen an die Jahre 1982 bis 1990 nicht ein einziges Mal. Bereits im November 1983 hatte Kohl die Verkürzung der Wochenarbeitszeit als »absurd, töricht und dumm« abgetan; im Rückblick nennt er das 1983 von seiner Regierung beschlossene Vorruhestandsgesetz »einen der größten Fehler meiner Amtszeit«. Mit Bitterkeit resümiert er die Auseinander­setzung um den Paragrafen 116 des Arbeitsförderungsgesetzes im Jahr 1984: »Die Art und Weise, wie die Gewerkschaften die Auseinandersetzung mit der Politik führte, bleibt für mich inakzeptabel.«
Hans-Jochen Vogel, seit Juni 1987 als Nachfolger Willy Brandts Vorsitzender der SPD und Ernst Breit kannten sich gut und hatten bereits anlässlich des Streiks bei der Post 1980 zusammengearbeitet. Der Skandal um die Neue Heimat und die Politik der sozialliberalen Koalition in ihrer Endphase hatten das traditionelle enge Verhältnis zwischen den beiden Formationen der Arbeiterbewegung belastet und nicht zuletzt nach den Vorstößen des saarländischen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine Anfang 1988, Arbeitszeitverkürzungen ohne Lohnausgleich anzustreben, stellte der SPD-Vorsitzende »einen Entfremdungsprozeß« fest, »der weiter fortge­schritten sei, als mir das bislang bewusst gewesen wäre.«
Die Generationsgenossen Breit und Vogel (Jg. 1926) nahmen das Heft unspektakulär, aber entschieden in die Hand: Bei einer gemeinsamen Sitzung der wichtigsten Gremien von Partei und Gewerkschaften wurden die Streitpunkte diskutiert; Lafontaine entschuldigte sich und verzichtete fortan auf zugespitzte Aussagen. Auch wenn diese Reparaturmaßnahme eine Zeit lang vorhielt, erwies sich Vogels Schlussfolgerung, wonach »Sozialdemokratie und Gewerkschaften ... ihr Verhältnis nicht mehr dem Selbstlauf überlassen« könnten, als weitsichtig. Allerdings geriet seine weitere Schlussfolgerung, dass sie »es verstärkt zum Gegenstand bewusster Pflege und Anstrengungen machen« mussten, im Lauf der kommenden Jahre mehr und mehr in Vergessenheit.

c) Deutsche Einheit
Mit bemerkenswerter Offenheit hat Ernst Breit im März 1990 bekannt, dass »die Arbeitnehmerorganisationen ... an der revolutionären Veränderung der DDR« ebenso »auffallend unbeteiligt« seien wie »an dem rasanten deutschen Einigungsprozess.« Der Kampf gegen das SED-Regime sei kein Arbeitskampf gewesen und die Gewerkschaften der Bundesrepublik hätten sich nicht um die DDR-Opposition gekümmert oder gar mit ihr zusammengearbeitet.
Aber gegenüber dem Vorwurf des GEW-Vorsitzenden Dieter Wunder, der DGB habe zu lange mit dem FDGB-Vorsitzenden Harry Tisch an einem Tisch gesessen, wendet er ein, dass es »ein anderes gewerkschaftliches Gegenüber« nicht gegeben habe und »gesamtdeutsche Tische ... ein rares Möbel« gewesen seien. Tatsächlich waren die Beziehungen zwischen dem DGB und seinen Gewerkschaften sowie dem FDGB und dessen Gewerkschaften während der gesamten Amtszeit Breits von zahlreichen Begegnungen und Gesprächen zwischen meist hochrangigen Delegationen geprägt. Sie waren vonseiten des FDGB stets bis ins Einzelne vorbereitet und auf das Genaueste geplant, und Kritik oder abweichende politische Auffassungen fanden fast nie den Weg in die Öffentlichkeit. Den Schlussstein in dieser Beziehungs­geschichte bildete der Besuch des FDGB-Vorsitzenden Harry Tisch beim DGB noch im September 1989, der insbesondere durch dessen öffentliche Auftritte und Aussagen ein fahles Licht auf diese Art von Politik warf.
Nicht nur DGB und Gewerkschaften konnten der Dynamik des Einigungsprozessen nicht folgen, und als sich 1990 bald erwies, dass ihre zunächst abwartende Position gegenüber dem FDGB nicht zu halten war, begannen die DGB-Gewerkschaften mit je eigenen Konzepten den Wiedervereinigungsprozess. Der DGB geriet an den Rand der Entwicklung, zumal sich mehr und mehr abzeichnete, dass eine Rechtsnachfolge für den DGB – nicht zuletzt wegen finanzieller Risiken unabsehbaren Ausmaßes – nicht in Betracht kommen konnte, und der scheidende Vorsitzende Breit resümierte kurz vor dem DGB-Kongress 1990: »Der Dachverband der Gewerkschaften, der FDGB, war nicht in der Lage, die notwendigen Reformen an Kopf und Gliedern durchzusetzen.«
Breit hat den Beginn des deutschen Einigungsprozesses, den er zweifellos begrüßt hat, mit derselben Nüchternheit und Ruhe in Angriff genommen, mit denen er schon im Falle der Gemeinwirtschaft und der Arbeitszeitfrage agiert hatte. Stets ging es ihm dabei um die innere Stabilität des DGB und, nachgelagert, auch um dessen Ruf und Bild in der Öffentlichkeit. Nach »großen Würfen«, konzeptionellen Außerordent­lichkeiten, nach denen in all diesen Fällen gerufen wurde, stand ihm nicht der Sinn, weil er wusste, was machbar war. Sicher ist Pragmatismus nicht immer die Methode der Wahl, aber während der Amtszeit des DGB-Vorsitzenden Breit war sie zweifellos meist der beste Ratgeber.

Es handelt sich um den (Vor-)Abdruck eines Textes, der demnächst erscheint in: Hans-Otto Hemmer (Hrsg.), Ausgleich mit Augenmaß. Gespräche mit Ernst Breit, Düsseldorf 2010. Dort finden sich auch die Belege, auf die hier verzichtet wird.

 

Geschrieben von: Hemmer Hans-Otto
Rubrik: Geschichte