von Christoph Jünke

Im Jahre 2006 erinnerte Arno Klönne in einem kleinen Zeitungsartikel an den hundertsten Geburtstag von Wolfgang Abendroth und pries dabei dessen politisch-intellektuellen Charakter. Abendroth sei ein linker Politikanalytiker in der Tradition der klassischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung gewesen, der die Entschiedenheit in der antikapitalistisch-sozialistischen Sache mit einem freundlichen Umgang ebenso mischte wie die Schärfe des politischen Geistes mit der Ablehnung jeder Effekthascherei. Abendroth habe Theorie und Praxis nicht auseinander gerissen und politische Wirksamkeit in Gewerkschaften, Parteien und sozialen Bewegungen mit der Mitarbeit in publizistischen Projekten und linken Kleingruppen verbunden. Er habe dabei beschränkte Sichtweisen ebenso kritisiert wie Scheinradikalität, und wollte die Bürokratisierung linker Organisationsformen ebenso überwinden wie die rechthaberische Isolation im gesellschaftlichen Gegen-Ghetto. Ein solcher Politikanalytiker, so Klönne vor nun einem Jahrzehnt, sei der deutschen Linken zu wünschen, doch leider gebe es ihn nicht.

In einem kurz darauf entstandenen Artikel zu Klönnes 75. Geburtstag schrieb ich damals, dass die Behauptung, dass wir so einen Abendroth nicht mehr hätten, nicht ganz stimme, denn wir hätten ja Arno Klönne. Ich bezog mich hierbei vor allem auf den politischen Journalisten Klönne und schrieb, dass er, wie kein anderer, in Artikeln, Aufsätzen und Büchern die großen Linien der deutschen Politik im Übergang zum neuen Jahrhundert kritisiert habe; dass er, in Zeiten der Regression, wie kaum ein anderer, jene unheilige Trias von Enttabuisierung des Militärischen nach außen, neoliberalem Sozialdarwinismus nach innen und der mit beidem aufs Engste verbundenen schleichenden Entdemokratisierung eines vermeintlich sozialen und demokratischen Rechtsstaates analysiert habe; und dass er solche Analysen wie kein anderer verbunden habe mit dem praktischen Engagement eines souverän über den Strömungen der deutschen Linken stehenden Propagandisten eines neuen linken Aufbruchs.

Ich möchte diesen Faden im Folgenden weiterspinnen und vertiefen, aber weniger mit Blick auf den journalistischen Kommentator, sondern mehr mit einem Blick auf den Charakter des linken Intellektuellen Arno Klönne als Ganzen. Mit Bedacht habe ich deswegen hier erneut an seine Charakterisierung von Wolfgang Abendroth erinnert, denn so treffend seine Beschreibung Abendroths auch ist, so sehr hat Klönne damit auch eine Selbstbeschreibung geliefert – ob bewusst oder unbewusst lassen wir mal dahingestellt sein.

Arno Klönne war nicht nur einer von Abendroths direkten Schülern, er war auch von vergleichbarem Holz. Er wurde, und das ist hier zu betonen, nicht wie Abendroth, weil er dessen Schüler war. Er wurde vielmehr zum Schüler Abendroths, weil er vom gleichen Typ wie Abendroth gewesen ist, weil er bei Abendroth einen Lebensentwurf geboten bekam, der seiner eigenen Geschichte und Erfahrung und seinem eigenen Verständnis als politischer Intellektueller entsprach. Als linker Intellektueller stand Klönne, wie auch Abendroth, in der Tradition sowohl der Jugendbewegung wie der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung. Als politischer Intellektueller wollte auch Klönne Theorie und Praxis nicht auseinandergerissen wissen und engagierte sich vor allem in sozialen Bewegungen jenseits des politischen Mainstreams. Auch Klönne mischte das Bekenntnis zu einem sozialistischen Antikapitalismus mit der aktivistischen Betonung basisdemokratischer Werte und wurde das, was man einen Grenzgänger nennen kann. Unter den historischen Bedingungen der doppelten deutschen Staatsgründung und des restaurativ-modernisierenden Adenauer-Regimes wurde auch Arno Klönne, Abendroth vergleichbar, ein linker Sozialist, ein Linkssozialist und damit ein gesellschaftlicher Außenseiter. Beider Geschichte kann und sollte als integraler Teil der spezifischen Geschichte des deutschen Linkssozialismus geschrieben werden – erst vor diesem historischen Hintergrund lässt sich auch Klönnes Charakter als linker Intellektueller besser verstehen. Was also ist unter Linkssozialismus zu verstehen, und wie schreibt sich dieser in Klönnes Leben und Werk ein?

Der Linkssozialismus in Theorie und Geschichte

Der Linkssozialismus als spezifische Strömung der politischen Ideengeschichte ist zwar als Schlagwort weit verbreitet, als analytisches Konzept jedoch noch kaum entfaltet. Das hat natürlich seine Gründe, auf die ich hier nicht eingehen kann. Fasst man ihn, wie ich an anderem Ort argumentiert habe, weniger formal-begrifflich, sondern mehr als eine historische Problemkonstellation, so bezeichnet der Linkssozialismus eine durchaus heterogene Reihe vergangener politischer Strömungen, Individuen und Ansätze, die sich seit den 1920er/1930er Jahren innerhalb und außerhalb der beiden Hauptströmungen der linken sozialistischen Arbeiterbewegung (in der Regel am linken Rand der Sozialdemokratie) positioniert haben, um damit deutlich zu machen, dass diese Hauptströmungen auf jeweils unterschiedliche Weise ihre sozialistischen Ursprünge verlassen haben, und dass es gelte, diese zu erneuern. So verstanden ist der Linkssozialismus Teil des heterogenen ›Dritte Weg‹-Spektrums – nicht eines dritten Weges zwischen Kapitalismus und Sozialismus, sondern eines dritten Weges zwischen oder jenseits der beiden Hauptströmungen der Arbeiterbewegung. Linkssozialisten halten fest am klassischen Programm eines sozialistischen Antikapitalismus, kritisieren die real existierende Sozialdemokratie wegen deren programmatischem Revisionismus und politischem Reformismus und versuchen, die Arbeiterbewegung von links zu erneuern, ohne Kommunisten werden zu wollen. Die kommunistische Bewegung wird dabei in der Regel abgelehnt (das unterscheidet die Mehrheit der Linkssozialisten von den ihnen nicht selten nahe stehenden Trotzkisten), weil sich diese aus dem vermeintlich diktatorischen russischen Bolschewismus, aus den leninistischen Organisationsmethoden entwickelt habe und entsprechend unauflöslich mit dem historischen Stalinismus verbunden sei.

Als politisch-intellektuelle Erneuerungsbewegung ist der Linkssozialismus also eine historisch spezifische Antwort auf die Entwicklungs- und Problemgeschichte der internationalen Sozialdemokratie wie der weltkommunistischen Bewegung. Linkssozialisten halten fest am alten, auf die Arbeiterklasse setzenden sozialistischen Programm einer Befreiung der Menschen von kapitalistischer Ausbeutung, Entfremdung und Unterdrückung und an einer kollektiven (und d.h. vor allem gemeinwirtschaftlichen) Überwindung der konkurrenzgetriebenen, individualistischen, kapitalistischen Marktgesellschaft, von Markt und Staat. Linkssozialisten verweigern sich dabei der Integration in die bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse ebenso wie der Unterordnung unter eine vermeintlich sozialistische Erziehungsdiktatur, die beide von diesen alten Zielen wegführen. Stattdessen setzen sie, in radikal-demokratischer Manier, auf eine umfassende Selbsttätigkeit der zu emanzipierenden Subjekte bereits im Prozess der Politisierung und Revolutionierung der Massen.

Eine solch historisierende Annäherung an den Linkssozialismus als Strömung der politischen Ideengeschichte im 20. Jahrhundert mag noch etwas vage und entsprechend unbefriedigend erscheinen. Trennscharf ist sie gleichwohl. Denn so wie der radikale Demokratismus der Linkssozialisten ihren theoretischen wie praktischen Antistalinismus begründet, ihre Distanz zur kommunistischen Bewegung, so ist es ihr marxistisch-sozialistischer Antikapitalismus, ihr programmatisches ›Zurück zu Marx!‹, der sie sowohl von der real existierenden Sozialdemokratie wie von allen nichtmarxistischen und nichtsozialistischen Linken, also beispielsweise von linken radikalen Demokraten oder von Anarchisten, unterscheidet.

Wie viele andere Linkssozialisten hatte übrigens auch Klönne selbst Probleme mit dem Begriff des Linkssozialismus. Als ich ihn im Jahre 2009 zu einer wissenschaftlichen Konferenz über den Linkssozialismus einlud, beteiligte er sich mit einem Papier, in welchem er betont, dass es diesen Linkssozialismus als solchen seiner Meinung nach nicht gebe, und dass er selbst lieber nur von einzelnen Linkssozialisten sprechen wolle. Das ist eine zwar sympathische Position, reklamiert sie doch den Eigensinn des widerständigen Individuums, doch wirklich überzeugend ist sie nicht. Wesentlich verantwortlich für diesen Widerwillen gegen eine theoretisierende Systematisierung des Linkssozialismus dürfte gewesen sein (abgesehen davon, dass Klönne theoretische Systematisierungen im Allgemeinen vermied), dass dieser Linkssozialismus so unterschiedliche Typen und Gruppen hervorgebracht hat, dass es gelegentlich schwer fällt, ihren inneren Zusammenhang zu erkennen. Dies hat aber mit der historischen Widersprüchlichkeit des Linkssozialismus selbst zu tun, denn als Erneuerungsbewegung des klassischen Sozialismus blieb der Linkssozialismus strukturell gebunden an das Schicksal der klassischen sozialistischen Bewegung und ihrer beiden Hauptströmungen. Die Geschichte linkssozialistischer Bewegungen ist durchzogen von dem Streit, ob man sich nur am Rande der beiden Hauptströmungen oder gar schon jenseits derselben befindet. Und auch wo linkssozialistische Strömungen und Individuen (in der Regel wider Willen) jenseits von sozialdemokratischer und kommunistischer Bewegung standen, wollten sie doch zumeist zwischen den Hauptströmungen vermitteln, um zu einer Erneuerung der Gesamtbewegung beizutragen. Gerade diese innere Widersprüchlichkeit des Linkssozialismus lässt ihn deutlich heterogener erscheinen als andere sozialistische Strömungen.

Nichts desto trotz hat es den Linkssozialismus als spezifische, historisch identifizierbare Strömung gegeben. Und diese Linkssozialisten haben, da weiß ich mich einig mit Arno Klönne, politisch und intellektuell Gewichtiges beigetragen zur Geschichte sozialer Bewegungen im 20. Jahrhundert. Unvollständig und deprimierend bleibt alle Geschichtsschreibung, die solche linkssozialistischen Strömungen und ihre Kämpfe gegen Faschismus und Stalinismus wie gegen alten und neuen Kapitalismus nicht berücksichtigt. Zur Renaissance von Sozialismus und Marxismus nach Faschismus und Stalinismus haben jedenfalls linkssozialistische Nonkonformisten wesentliches beigetragen, und wer glaubt, dieses Erbe gleichsam rechts oder links liegen lassen zu können, hat nicht nur ein schiefes Bild von den Kämpfen der Vergangenheit, sondern entledigt sich auch wichtiger Erfahrungen und Traditionen für heutige Auseinandersetzungen.

Als gleichsam kulturrevolutionäre Hefe im gesellschaftspolitischen Teig der zweiten Jahrhunderthälfte verkörperten Linkssozialisten nicht selten den Gärstoff sozialer Bewegungen. Doch wirklich aufgegangen ist dieser Teig nicht. Aufs historische Ganze gesehen ist die politisch-historische Strömung des Linkssozialismus, trotz aller historischer Verdienste, eine strömungspolitische Marginalie geblieben. Angetreten, die sozialdemokratische und die kommunistische Strömung der Arbeiterbewegung zu erneuern oder gar selbst zu beerben, ist dem Linkssozialismus beides nicht wirklich geglückt. Auch dies gehört zu einer historischen Bilanz des Linkssozialismus – und damit auch zu Arno Klönnes Leben und Werk.

Arno Klönne als Linkssozialist

So wie Wolfgang Abendroth ein Linkssozialist aus der Pioniergeneration der 1920er und 1930er Jahre gewesen ist, so kann Arno Klönne als eines der vielen Beispiele für den linkssozialistischen Intellektuellen betrachtet werden, wie er in den 1940er und 1950er Jahren geprägt wurde – also nach Faschismus, Hochstalinismus und Weltkrieg. Auch Klönne hielt fest an der alten sozialistischen Ziel-Idee einer von Markt und Staat, von Ausbeutung und Entfremdung weitgehend befreiten, ebenso solidarischen wie gemeinwirtschaftlichen Gesellschaftsform. Auch er verweigerte sich, soweit dies möglich war, der Integration in die neokapitalistischen Verhältnisse der Wirtschaftswunderzeit ebenso wie der Ein- und Unterordnung in autoritär-sozialistische Traditionen und Strömungen. Auch Klönne setzte zeitlebens auf die umfassende Selbsttätigkeit der zu emanzipierenden Subjekte, erhoffte sich die notwendige Politisierung und Revolutionierung der Massen wesentlich von unten. Und auch wenn der Wissenschaftler Klönne hier, sozusagen berufsbedingt, vorsichtiger formulierte als der politische Journalist Klönne, so verdeutlicht schon die Wahl seiner wissenschaftlichen Themen das eigene Engagement und die eigene Tradition, in der er dachte und schrieb.

Dies hat ihn zu einem Grenzgänger unserer spätbürgerlichen Gesellschaft und ihrer akademischen Fachdisziplinen werden lassen, zumal in einem Deutschland, das auf so tiefgreifende und nachhaltige Weise vom Antikommunismus und Antisozialismus durchdrungen war. Schon der linke Sozialist Abendroth musste im Nachkriegsdeutschland mit vielerlei Anfechtungen kämpfen und konnte beispielsweise weder Jurist noch Historiker werden, musste vielmehr auf das Marburger Gebiet der politischen Soziologie ausweichen. Auch Klönne konnte, seiner ganzen Neigung und Fähigkeit nach ein Historiker, im traditionell konservativen Feld der deutschen Geschichtswissenschaft nicht reüssieren – auch er wurde ein politischer Soziologe, in diesem Falle in der akademischen Provinz Paderborn.

Der linkssozialistische Intellektuelle ist aber nicht nur ein Außenseiter und Grenzgänger der bürgerlichen Gesellschaft und der akademischen Fachdisziplinen, er ist mehr noch ein Grenzgänger der linken politischen Strömungen und Bewegungen – und dies auf ganz besondere Weise gerade hier in Deutschland, denn nirgendwo wirkten sich die strukturellen Widersprüche des Linkssozialismus schärfer aus als gerade bei uns. Linkssozialisten hatten es in Deutschland von Beginn an besonders schwer: Vor dem Nazi-Faschismus, weil der ›Bruderkrieg‹ zwischen sozialdemokratischer und kommunistischer Partei in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts besonders blutig und erbittert vonstattengegangen ist, und weil die dadurch bedingte Polarisierung es den Strömungen eines ›Dritten Weges‹ schwer machte, Gehör zu finden. Während des Nazi-Faschismus, weil dieser die gesamte Bewegung nachhaltiger als anderswo zerschlagen, ihre Anhängerschaft ermordet, ihre Ideen diskreditiert und ihre Klientel nachhaltig umerzogen hat. Nach dem Nazi-Faschismus, weil sich dieser umfassende politische, soziale und geistige Bruch (nach dem recht kurzen, mehrjährigen Interregnum der unmittelbaren Nachkriegszeit, in der gar manche emanzipatorische Hoffnung blühte) fortsetzte und in die in Deutschland besonders ausgeprägte Konfrontation der Blöcke des Kalten Krieges überführt wurde. Mit der dadurch bedingten Spaltung Deutschlands lebte der alte politische Strömungsstreit der Arbeiterbewegung wieder machtvoll auf und wurde gleichsam überdeterminiert durch die Staatswerdung der kommunistischen SED im planwirtschaftlichen Osten und der sozusagen eingebildeten Staatswerdung der Sozialdemokratie im sozialstaatlichen Westen.

Diese besondere nationale Konstellation hat dazu geführt, dass der innerlinke Strömungsstreit zu einem wesentlichen Teil mit staatlichen Ausgrenzungs- und Repressionsmitteln ausgetragen wurde. Entsprechend hatten die an sich schon stark marginalisierten deutschen Linkssozialisten im Kalten Krieg unter einer dreifachen Repression von oben zu leiden: unter der Repression des konservativen Bürgertums, für die alle Wege des Marxismus nach Moskau führen; unter der Repression der sich staatsbürgerlich gegen links abgrenzenden SPD und unter der mit viel Geld ausgestatteten und mit allen Geheimdienstmethoden gewaschenen Macht des SED-Staates, die es bekanntlich gerne auf jene abgesehen hatte, die sie von links in Frage stellten. Diese Konstellation hatte nachhaltige Folgen für den deutschen Linkssozialismus. Schafften es linkssozialistische Strömungen in anderen westeuropäischen Ländern in den sechziger und siebziger Jahren, sich wenigstens vorübergehend sozial und politisch zu verankern, erwies sich dies in Deutschland als strukturell unmöglich. Hier konnten Macht und Einfluss der Sozialdemokratischen Partei auf der einen, der SED auf der anderen Seite fast ungebrochen bis in die jüngste Gegenwart überleben. Und das bedeutete, sowohl politisch wie persönlich, nichts Gutes für Linkssozialisten – denken wir an das Schicksal der linken Oppositionellen in der DDR, an Harich, Havemann, Bahro und die anderen; denken wir aber auch an das Schicksal der Linkssozialisten im Westen, an Viktor Agartz, Wolfgang Abendroth, Leo Kofler, Peter Brückner, Rudi Dutschke und andere.

Auch hier lässt sich also von einem deutschen Sonderweg sprechen – wobei zu betonen ist, dass hier nicht der Strömungsstreit an sich das Besondere darstellt, sondern vielmehr die besondere Schärfe seiner Auseinandersetzung. Diese besondere Schärfe ließ, so scheint es, auch den Linkssozialisten nur den Spagat zwischen Skylla und Charybdis, zwischen Ost und West. Eine souveräne, eigenständige Haltung zwischen den beiden linken Hauptströmungen erschien mit zunehmender Polarisierung im Kalten Krieg zwar theoretisch denkbar, praktisch jedoch immer schwieriger. In den Worten von Arno Klönne: »Wer als antimilitaristischer Sozialist mit gesamtdeutschen Hoffnungen die sowjetische Politik attackierte, endete vielfach in der ungewollten Rolle eines Propagandisten der US-amerikanischen Politik; wer als linker oder christlicher Pazifist mit gesamtdeutschen Hoffnungen die Verständigung mit der UdSSR oder der DDR suchte, endete vielfach in der ebenso ungewollten Rolle eines Vorzeige-Friedensfreundes im Dienst der SED-Propaganda für Westdeutschland, dies noch dazu in der wenig sympathischen Gesellschaft von ehemaligen Hitler-Militärs oder HJ-Führern, die nun aufs ›rote Preußen‹ umgeschwenkt waren.«In der politisch weitgehenden Isolation war man hin- und hergerissen zwischen Anpassung und Verweigerung, zwischen Opportunismus und Sektierertum. Klönnes Leben und Werk zeichnet aus, dass und wie er diesen jeweiligen Versuchungen widerstanden hat – frei davon war aber auch er sicherlich nicht, da es sich hierbei um eine Strukturbedingung der deutschen Sozialisten handelte. Seine eigene jahrzehntelange politische Haltung jedenfalls hat er aus der eben zitierten Analyse abgeleitet (und als Historiker nachträglich gerechtfertigt): »Einen langfristig haltbaren Ansatz einer Friedensbewegung bildeten damals am ehesten jene Gruppen, die realistischerweise von der weltpolitischen Ohnmacht der westdeutschen Protestbewegung ausgingen, sich gesamtdeutschen Utopien fernhielten und ihre Aufgabe vor allem darin sahen, der Rehabilitierung des militärischen Ungeistes, der erneuten Militarisierung der Gesellschaft und dem Wiederauftauchen von Hitler-Militärs entgegenzutreten. Hier entwickelte sich auch eine Traditionslinie zu den antimilitaristischen und pazifistischen Gruppen und Leitbildern aus der Zeit vor dem deutschen Faschismus.«

Stärken und Schwächen

Wie Abendroth vermied also auch Klönne die linkssozialistische Kunst der Provokation und bemühte sich stattdessen um die Kunst des Gleichgewichts. Wie Abendroth auch, sah er sich vor allem als Vermittler und Brückenbauer zwischen den beiden Hauptströmungen der sozialistischen Tradition, sah sich explizit zwischen und nicht jenseits von Sozialdemokratie und Kommunismus. Entsprechend war beiden ein besonderer diplomatischer Charakter fast schon naturgemäß eigen. Vermittler und Brückenbauer bieten sich als Netzwerker geradezu an und betonen das Gemeinsame, den gemeinsamen Weg, wollen Räume öffnen und Orte der Diskussion und Begegnung schaffen. Der Weg ist das Ziel – dies könnte auch als Klönnes Lebensmotto durchgehen. Und entsprechend hat er – immerhin sechs Jahrzehnte lang und zumeist neben seiner eigentlichen Berufsarbeit – nicht nur Zeitschriften und Verlage gegründet und redaktionell geführt, sondern sich auch als journalistischer Kommentator der Tagespolitik ebenso einen Namen gemacht wie als Organisator und Sprecher sozialer Bewegungen. Ich wüsste keinen anderen, der ein gleichermaßen gern gesehener Gast gewesen ist bei sozialdemokratischen Ortsvereinen wie bei Kommunisten, bei Trotzkisten wie bei Anarchisten, in den Gewerkschaften und bei sozialen Basisbewegungen, bei Linksliberalen wie bei Katholiken – man lese nur die aus den vielfältigsten Ecken kommenden Nachrufe auf ihn.

Die Geduld, mit der ein Arno Klönne jahrzehntelang seine dicken Bretter bohrte, nötigt Respekt und Bewunderung ab. Doch Stärke und Schwäche der Menschen liegen oftmals dicht beieinander. Wer wie Klönne zwischen den Strömungen vermitteln und Brücken bauen möchte, muss sich bei der auf Polarisierung abzielenden politischen Positionierung eben ein gehöriges Stück weit zurückhalten. Und dies hatte vielfältige Folgen.

Da wären zuerst die Folgen für seine Positionierung in zentralen politischen Strömungsfragen. Wie hält es der deutsche Linkssozialist mit der sozialdemokratischen Partei, mit dem, was die meisten als den spezifisch sozialdemokratischen Revisionismus bezeichnen? Welche praktisch-politische Haltung nimmt er ein, und wie interpretiert er die Geschichte dieser machtvollen Strömung? Als linkssozialistisches Mitglied der Sozialdemokratischen Partei war Klönne zwar um kritische Worte zur eigenen Partei nicht verlegen, doch ob seine wohlwollende Theoretisierung der SPD als – wie er es formulierte – ›Grenzträger kapitalistischer Herrschaft‹ historisch richtig war, ließe sich ebenso kontrovers diskutieren wie die lange so wohlwollende Einschätzung der SPD bei Abendroth, von Oertzen und anderen. Am Ende hat auch Klönne diese Partei verlassen und nicht viel Gutes an ihr gelassen …

Und wie hält es der deutsche Linkssozialist mit der kommunistischen Bewegung? Welche praktisch-politische Haltung nimmt er ein gegenüber diesen so massiv verfolgten und denunzierten, aber gleichzeitig auf so besondere Weise nur halbherzig entstalinisierten deutschen Kommunisten – und wie interpretiert er diesen langen Schatten des Stalinismus? An Klönnes prinzipiellem Antistalinismus war zwar nicht zu rütteln (und man findet, über sein gesamtes Werk verteilt, immer wieder überaus treffende Passagen der Kritik), doch hat er (wie Abendroth auch) die Auseinandersetzung mit den philostalinistischen Kommunisten in der Regel nur allzu gern vermieden. Schon bei der historischen Auseinandersetzung um die Haltung linker Sozialisten und Kommunisten anlässlich der sowjetrussischen Intervention in der Tschechoslowakei im August 1968 spielte der Gleichgewichtspolitiker Klönne mit seinen Stärken wie Schwächen eine zentrale Rolle. Während radikale Antistalinisten diese Haltung mit Unverständnis und Distanz quittierten, haben es ihm philostalinistische Kommunisten zeitlebens gedankt. Klönne sei, so Georg Fülberth und Jürgen Harrer, »sein ganzes erwachsenes Leben lang souverän mit der K-Pathologie umgegangen: solidarisch mit den Freunden und Genossen, die sie traf.« In der Tat – aber um welchen Preis? Und was heißt hier eigentlich souverän? Souveränität meint jedenfalls mehr als politische Solidarität, so wichtig diese auch ist…

Ein besonderes Problem hatte der linkssozialistische Brückenbauer und Vermittler Klönne – und auch dies ist mehr Ausfluss seiner strömungspolitischen Stellung denn persönlicher Neigung geschuldet (schließlich war auch er im Grunde ein Antiautoritärer) – mit jenen Linkssozialisten, die sich jenseits der beiden linken Hauptströmungen bewegten und die, um im Bild zu bleiben, weniger den Weg als vielmehr das Ziel betonten. Die antistalinistische Schärfe solcher Linkssozialisten wie Leo Kofler, Theo Pirker, Peter von Oertzen, Rudi Dutschke und anderen vertrug sich mit seiner Vermittlerposition ebenso wenig wie die antisozialdemokratische Härte eines Viktor Agartz oder der antiautoritären ›68er‹ (auch seine vielfältigen Aufsätze und Artikel zu ›1968‹ spiegeln diese Spannung – eine Spannung, die nicht unwesentlich in der Spannung von ›1956er‹- und ›1968er‹-Neuen Linken wurzelt). Nicht wenige dieser linken Sozialisten und Antiautoritären haben, aus Treue zur Sache selbst, ihr objektives gesellschaftliches Ghetto-Dasein bewusst in Kauf genommen, sich darin gelegentlich sogar umso radikaler gefühlt. Sie haben ihre Radikalität aber mit einer weitgehenden Verdrängung, nicht nur aus der Gesellschaft konservativer und liberaler Bürger, sondern auch aus der der politischen Linken, bezahlen müssen. Jenen Linkssozialisten, die dies nicht wollten, die aber an ihrem Credo eines sozialistischen ›dritten Weges‹ festhalten wollten, blieb allzu oft kaum mehr als der Appell an parteiübergreifende Gemeinsamkeiten. So ging der innerlinke Spaltpilz selbst durch die linkssozialistischen Reihen: Den Künstlern des Gleichgewichts (wie Abendroth und Klönne) standen die Künstler der Provokation (wie Agartz, Pirker oder Dutschke) gegenüber.

Wer wie Klönne den gemeinsamen Weg betont und sich als Wächter dieses gemeinsamen Weges sieht, muss aber nicht nur in praktischen Fragen der Strömungspolitik, sondern auch bei den sie begleitenden theoretischen Fragen deutlich zurückhaltender agieren. Wer explizit vermitteln will, kann sich durch die Kunst der Zuspitzung, ob politisch oder theoretisch, nicht zur potentiellen Untätigkeit verdammen. Ein Leo Kofler beispielsweise – auch er ein linkssozialistischer Grenzgänger, aber von einem anderen Typ als Klönne – war hier anders: Wie kein anderer hat Kofler zeitlebens an der politisch-programmatischen Ziel-Idee eines sozialistischen Humanismus gearbeitet, die er nur in scharfer Distanz, sowohl zum bürokratisch-stalinistischen Kommunismus wie zum reformistisch-revisionistischen Sozialdemokratismus, formulieren konnte. Doch hat ihn dies fast zwangsläufig zur innerlinken Isolation verurteilt – nicht aus persönlicher Neigung (er wusste um die eigene Beschädigung), sondern eben aus Treue zur sozialistischen Idee. Theoretische Konsistenz und Reinheit war dagegen Klönnes Sache nicht. Auch hier war ihm die praktische Bewegung wichtiger als das theoretische Bekenntnis.

Diese objektiv bestimmende Gesamtkonstellation dürfte meines Erachtens sogar mitverantwortlich gewesen sein für seine persönliche Handschrift. Es ist jener, die politische Zuspitzung und polemische Schärfe (ebenso wie die epische Breite) in der Regel vermeidende Ton nüchterner Sachlichkeit, der einen Arno Klönne ebenso auszeichnet wie Wolfgang Abendroth. Historische und gesellschaftliche Sachverhalte offen zu lassen und mit einer bemerkenswert unaufgeregten Nüchternheit und Sachlichkeit, gelegentlich gar mit einem an Georg Lukács erinnernden mäandernden Schreibstil, zueinander zu vermitteln – dies ist der besondere Stil Arno Klönnes als historischer Sozialwissenschaftler und als Pädagoge. Seine großen historischen Arbeiten zeugen jedenfalls von dieser Kunst, Zusammenhänge zu vermitteln, Fragen zu stellen und kritisch abwägend offen zu halten. Und so sehr ihn diese Haltung gelegentlich zur politischen Folgenlosigkeit verurteilte, so sehr kam sie dem Pädagogen und Wissenschaftler Klönne zugute.

Vielleicht spielt hier aber auch jene besondere Sensibilität der skeptischen Generation mit, deren Kind auch Arno Klönne gewesen ist (bei aller berechtigten Kritik am Konzept selbst). Mit der Suche nach der deutschen linken Identität hatte Klönne bekanntlich seine Probleme – doch auch dies ist weniger das Ergebnis intellektueller Selbsterkenntnis als vielmehr eine Folge der spezifischen Geschichte eines linken Sozialisten im deutschen Postfaschismus.

(Die Printfassung dieses Beitrages erschien in dem von Barbara Klaus und Jürgen Feldhoff herausgegebenen Band »Politische Autonomie und wissenschaftliche Reflexion. Beiträge zum Lebenswerk von Arno Klönne« im Frühjahr 2017 im Kölner PapyRossa-Verlag. Dort finden sich auch die Zitatnachweise und Literaturhinweise.)

Geschrieben von: Jünke Christoph
Rubrik: Geschichte