Aufnahme: ©rs

Das Einstein in der Kurfürstenstraße war das schönste und legendärste Caféhaus Wiener Prägung in Berlin. Man fand dort die tägliche Weltpresse ebenso wie Leute ›von Welt‹ (oder solche, die sich dafür halten): ›Monde‹ & ›Demi-Monde‹ reichlich, glücklich vereint. Dort auch sitzt der Flaneur, trifft sich mit Leuten, mit denen er beruflich zu tun hat, liest Zeitung, sieht schönen Frauen nach, unterhält sich über Ausstellungen, Theater etc. Die Kolumne des Berliner Philosophen Steffen Dietzsch, Bannkreis, versammelt – in loser Folge – die Resultate seines Flanierens: kleine Glossen, Artikel zur Sache. 

 

 … neulich im Einstein

musste ich lange auf Freund Miloš (aus Prag) warten – aber er hatte mir schon eine ›E-Mail‹ geschickt: sein Zug sei gecancelt worden … Das war der seit langem einzig korrekte Gebrauch dieses Verbs, soviel ich hörte. Aber ›abgekanzelt‹ zu werden, ist eine gegenwärtig überall und von ›den Vielen‹ auszuhaltende demokratie-pädagogische Zumutung: how dare you!, Du gehst ungerührt die Mohrenstrasse entlang? Trägst keine Maske? Liest Shakespeare oder George? Isst Fleisch? Kaufst ›rechte‹ Bücher? Vergisst mit ›man‹ die ›Frau‹? Unsereins lässt das – nolens volens – gern gelten als eine Meinung neben anderen, gedeckt durch den – unbedingten! – Wert: Meinungsfreiheit.

Mit dem Begriff cancel culture wird vor einer Kulturpraxis gewarnt, die (aus einem Reinheitsimpuls heraus) beginnt, die sozusagen ›zweite Reihe‹ unserer politischen, geistigen oder urbanen Traditionen um- & abzuräumen. Da dabei vieles inzwischen bloß noch sekundär unser literarisches, historisches Interesse oder Stilempfinden berührt (an vieles hat man sich auch gewöhnt), wird die kulturrevolutionäre Absicht jener Abräumer, die sich selber dabei wohl als ›Tatortreiniger‹ verstehen, leicht unterschätzt. Es wird von vielen höchstens als Kollateralschaden eines demokratisch befeuerten Aktivismus gering geschätzt.

Wenn hier vor diesem politisch aufgeladenem canceln deutlich gewarnt wird, ist damit nicht zuallererst die alltägliche Praxis gemeint, immer wieder mal die Bibliothek durchzusehen und verstaubte Regale zu entsorgen … Natürlich ist nicht alles, was wir wahlweise tun oder unterlassen (also nicht mehr lesen, nicht kaufen, nicht wissen wollen, nicht mehr komisch finden), zutreffend als cancel culture zu beschreiben.

Die verbots- und vormundschaftlich empfindliche Seele in den ›neuen‹ Bundesländern erinnert sich noch an einen Buch- und Universitätsalltag, der von Anfang an geprägt war von den jährlich dicker werdenden Listen der aus Bibliotheken auszusondernden Literatur (1946-1953). Das wurde – wie heute – nicht durch Volksabstimmungen legitimiert, sondern zunächst angeregt von entschlossenen Minderheiten, dann verordnet und exekutiert vom akademischen Verwaltungs-Etablissement.

Solche flächenübergreifenden kulturellen Reinigungsmaßnahmen (gegen Bücher, Denkmäler, Straßen- und Städtenamen etc.), die nach verlorenen Kriegen unabweislich sind, entfalten mitten in einer – inzwischen siebzigjährigen! – marktwirtschaftlich-prosperierenden, europäisch-friedlichen, selbstbewussten, liberalen und bewährten Demokratie den Verdacht, grundlegende geistig-kulturelle Ausprägungen an die kurzen Bande einer Neuen Hegemonie (endgültiger Emanzipation) zu legen. Das energische canceln der Standards der Deutschen Sprache und historischer, politischer, militärischer Daten in Deutschland seit der Französischen Revolution, zeugt nicht nur von historischer Ignoranz ( … und korrespondiert mit entsprechend dürftiger historischer Alltagsbildung), – muss aber vor allem begriffen werden als potentieller Angriff auf die ›vorpolitische‹ Grund-Konstruktion dessen, was man ›den Westen‹ nennt: die im First Amendment der ›Bill of Rights‹ (1791) und der Pariser Erklärung der Bürger-und Menschenrechte (1791) grundlegend festgeschriebene Gedanken- und Meinungsfreiheit.

Aber der Canceler (wird hoffentlich niemals Chancellor) besteht natürlich keinen Aufklärungs-Test, denn der verlangt den »Ausgange des unmündigen Menschen aus einer allerhöchst selbst verschuldeten Vormundschaft« (Johann Georg Hamann, 1784)

Nachtrag: Bei einem Gespräch mit einem Leipziger Philosophiestudenten (Mitte September 2020), der sich in seiner Bachelorarbeit mit der Zensur philosophischer Texte in der DDR befasst, wusste dieser von einem Bestandsverlust in der Leipziger Universitätsbibliothek zu berichten. Verschwunden war ein Exemplar des Bandes Denkfreiheit (Leipziger Universitätsverlag 2016)!

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